Reich durch Handtaschen und trotzdem nackt

Die Georgstraße in Hannover ist eine belebte Fußgängerzone zwischen Kröpcke und Steintor. Sie ist sehr breit, hat in der Mitte noch Platz für eine als Allee angelegte Fahrradstraße. Vom Kröpcke bis zum Steintor verändert die Georgstraße ihren Charakter. Das liegt an den Läden. Gegen Ende der Georgstraße verkauft man mehr Ramschware. Entsprechend sortiert sich das Publikum.

Es ist ungefähr fünf Uhr, da sitze ich eine Weile auf einer der weißen Bänke, die entlang der breiten Fahrradstraße aufgestellt sind. Um diese Zeit dürfen hier keine Radfahrer fahren, hätten aber auch keinen Platz zwischen den vielen Menschen. Hinter mir ist das Gebäude von Karstadt. Es hat eine Arkade, und darunter sind große Grabbeltische aufgestellt, übervoll mit Taschen und Geldbörsen. Eine Vertreterin rennt dazwischen auf und ab wie eine aufgescheuchte Ballerina und redet reißerisch in ihr Mikrophon: „Preise wie zu DM-Zeiten, meine Damen! Sie zahlen nur die Hälfte des angegebenen Preises. Und jetzt geht’s los. In den nächsten 20 Minuten bekommen Sie an die Kasse noch mal 20 Prozent von dieser Hälfte! Wenn die Tasche 60 Euro kostet, zahlen Sie die Hälfte, also 30 Euro. Und davon gehen an der Kasse noch einmal 20 Prozent ab! Sie zahlen nur 24 Euro!“

Das klingt besser als 60 Prozent Preisnachlass, ist werbewirksamer und anschaulicher. Man bekommt nicht einen Preisnachlass auf die Tasche, sondern zwei. Da will ich mir glatt eine schöne große Damenhandtasche kaufen, wenn mir quasi noch 36 Euro obendrauf geschenkt werden. Ich weiß aber nicht, wie viel Zeit schon vorbei ist von den 20 Minuten. Am Ende komme ich mit meiner aus den Tiefen der Grabbeltische erbeuteten Damenhandtasche zur Kasse, und da guckt die Kassiererin ostentativ auf ihre Uhr und sagt: Eine Minute drüber, die 20 Prozent auf die Hälfte können wir Ihnen leider nicht schenken.“ Das, stelle ich bald fest, ist eine überflüssige Befürchtung, denn die Frau mit dem Mikrophon kommt alle 10 Minuten und ruft 20 Minuten aus. Sie gehen also von morgens bis abends, ja, sind sogar eine Verdoppelung der Zeit. Und du sagst doch immer: „Zeit ist Geld!“

Ich wurde also reich, als ich mit dem Rücken zum Karstadt-Gebäude saß. Habe nichts ausgeben, und dann hat mir die Vertreterin noch 40 Minuten geschenkt, davon die Hälfte und noch mal 20 Prozent Abzug. Weil dadurch aber mein Zeitkontinuum ein wenig durcheinander geriet, bin ich jetzt vom Thema abgekommen... ach so: In der Minute gingen Hunderte an mir vorbei oder querten die Straße von einem Geschäft ins andere. Es ist unfassbar, welche Spielarten der Natur es gibt. Und alle hatten ja am Morgen ihre Kleidungsstücke aus dem Schrank genommen und sich damit bedeckt. Es gibt Moden, aber auch Vielfalt. Aber für einen Augenblick hatte ich die Vision, alle Kleidungsstücke, die in Ostasien gefertigt wurden, wären plötzlich verschwunden. Dann wären die Tausende, die ich in den 40 Minuten sah, allesamt nackt gewesen. Und die Taschen wären natürlich auch weg. Bekleidet hingegen wäre man vielleicht noch auf dem Teilstück der Georgstraße, jenseits vom Kröpcke, wo die feineren Geschäfte locken. Zumindest hätte der eine oder andere noch ein Trigema-Hemdchen an.

Mehr: Ethnologie des Alltags
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Neues vom Schwamm - mit Gastautor Rudolf Löhrer

Ein schwammiger Kerl, schwammiges Gesicht, schwammige Aussagen, - solche Aussagen haben neuerdings eine ganz andere Qualität. Heute meldet GMX, Wissenschaftler hätten herausgefunden, dass bei Schwamm und Mensch ganze 70 Prozent der Erbmasse identisch sind.

Um das herauszufinden sind die Wissenschaftler fünf Jahre ins Great Barrier Reef abgetaucht, und jetzt ist auch nicht auszuschließen, dass an Stelle eines Wissenschaftlers schon mal der eine andere Schwamm wieder aufgetaucht ist und an Bord des Forschungsschiffes ging. Sie sehen sich ja so verteufelt ähnlich. Nur dass der Schwamm keine Taucherbrille braucht, das ist so ziemlich der einzige Unterschied. Derweil poussiert der Wissenschaftler da unten mit einer Schwämmin, muss dann aber feststellen, dass Schwämme Zwitter sind und zur Fortpflanzung keinen Geschlechtspartner benötigen. Hoffentlich war das Schiff noch da, als er einen definitiven Korb gekriegt hat.

Bevor aber jetzt der Schwamm Stimmrecht in der UNO bekommt, wäre es doch gut zu wissen, ob uns da nicht andere Wesen ein bisschen näher verwandt sind. Was ist beispielsweise mit dem Opossum oder dem Nacktmull? Egal jetzt. Fast visionär vorausgesehen hat die enge Verwandtschaft zwischen Mensch und Schwamm mein Freund Rudolf. Es ist nämlich so, wozu der Wissenschaftler jahrelang ins Great Barrier Reef abtaucht, das weiß der Künstler längst. Tretet dAdA rein!

Ein Schwamm 01
Rudi 22.09.07


gelesen von Trithemius, der versucht zu lesen,
wie es der Künstler selber las. Weitere Gastautoren

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Frau Nettesheim - zu schwer für den Gepäckständer

trithemius & Frau Nettesheim

Frau Nettesheim
Haben Sie Ihr Programm für die Lesereise fertig, Trithemius?

Trithemius
Wenn die Leute eine fünfstündige Lesung ertragen, dann bin ich fertig.

Frau Nettesheim
Lassen Sie besser noch einige Texte weg.

Trithemius
Ja, natürlich, aber die Qual der Wahl, Frau Nettesheim.

Frau Nettesheim
Was gestrichen ist, kann nicht durchfallen. Außerdem sollten Sie bedenken, anders als hier haben die Texte Gewicht, zumal Sie den Gastgebern ein Exemplar Ihrer Sammlung schenken wollen. Jedes Gramm zusätzlich auf dem Fahrrad will auch bewegt werden.

Trithemius
Das fehlt mir noch, dass Sie mir sagen, meine Texte im Blog hätten kein Gewicht.

Frau Nettesheim
Ach, Trithemius, seien Sie nicht so empfindlich. Sie wollen doch gut vorankommen, also nehmen Sie nur mit, was die Aussicht hat, gelesen zu werden. Ein, zwei Zugaben obendrauf, dann sind Sie gut gewappnet.

Trithemius
Na, dann will ich noch mal alles durchgucken, und wo Sie vorkommen, das lasse ich dann weg.

Frau Nettesheim
Er mal wieder.

Lesung im Tausch gegen Nachtquartier

''Der Künstler steht zwischen den Tagen wie ein Scharnier."
(Paul Duroy)

Vorankündigung in anderen Blogs:

Eugene Faust: Blogger zwischen Hannover und Aachen aufgepasst!
Heinrich: Wer mit dem Teppich fliegt, braucht kein Kettenschloss
videbitis: Aushang rechts neben der U-Bahnstation am Neumarkt
Einhard: Wichtiger Hinweis - "Was zum Henker ist pataphysisch?"
...
Vielen Dank,
Trithemius

Mehr über den Leseort Kerstensche Pavillon
1270 mal gelesen

Herr Jesus hat mich nicht gegrüßt - aber immerhin


Seit es das
Internet gibt, gibt es auch mehr Erscheinungen. Vielmehr ist es so, die Schmocks von der Presse haben uns eine Menge Erscheinungen vorenthalten. Sie sitzen ja auf Bergen von ungedruckten Texten, und wenn ein Bericht von einer Erscheinung reinflatterte, dann hat sie spätesten der Chef vom Dienst bei der Redaktionskonferenz vom Tisch gefegt und gesagt: „Ach, nicht schon wieder eine verfluchte Erscheinung! Wir hatten doch erst letztes Jahr eine. Dafür ist jetzt kein Platz. Die heben wir nicht ins Blatt!“ Das sind nämlich alles Heiden oder Zyniker oder beides.

Dank Internet erfahren wir trotzdem von allen Marien- oder Jesuserscheinungen - auf Toastbroten, im Speiseeis, auf Regenrinnen und so fort. Dem kann ich jetzt eine Erscheinung hinzufügen, und ich will verflucht sein bis in die Steinzeit und zurück, wenn ich sie nicht mit eigenen Augen gesehen habe. Gut, ich war bekifft oder hatte Bier getrunken, aber heißt es nicht, Betrunkene sagen die Wahrheit? Und war nicht auch die 38-jährige Krankenschwester Alex Cotton aus Coventry (England) betrunken, als sie Jesus auf ihrer Regenrinne entdeckte, den man nur sehen kann, wenn man auf allen Vieren kriecht? Ich sah jedenfalls den leibhaftigen Jesus in einem Hula-Hoop-Reifen.

Der war
sonnengelb und wurde gehalten von einem dienstbaren Geist, vermutlich einem Engel. Er saß auf dem Gepäckständer eines alten Damenfahrrads. Vor ihm saß Jesus und trieb das Fahrrad mit seinen Füßen an. Er sah genau so aus, wie er auf den wunderschönen Gemälden namenloser Künstler dargestellt ist, die früher über den Betten frommer Eheleute hingen. Er hatte schönes langes, kunstvoll gelocktes, braunes Haar, nur hielt er nicht seine Hand aufs strahlende Herz, sondern am Lenker. Er musste sich ja wenigstens ungefähr an die Straßenverkehrsordnung halten. Mit der Rechten grüßte er nach links und rechts wie der Papst, wenn er in seinem Papamobil unterwegs ist. Aber anders als der Papst hatte Jesus einen Glorienschein, der ihn von der Hüfte aufwärts umgab. Das war wie gesagt ein sonnengelber Hula-Hoop-Reifen, der von dem hinter ihm sitzenden dienstbaren Geist, vermutlich einem Engel, gehalten wurde.

Jesus grüßte und grüßte nach links und rechts, grüßte auch dahin, wo gar keiner war, wo zumindest ich keinen sehen konnte. Einziger Wermutstropfen: Er hat mich nicht gegrüßt, sah über mich hinweg, denn ich saß am Boden, vielmehr auf der Dornröschenbrücke ans Geländer gelehnt, wie ich es in letzter Zeit häufig tue, um den Sonnenuntergang zu genießen. Aber das will ich gelten lassen. Denn nur wer demütig ist, kann auf eine Erscheinung hoffen. Und weil ich mein eigener CvD bin, zumindest solange Frau Nettesheim nicht da ist, kann ich sogar Zeugnis ablegen.

Mehr: Ethnologie des Alltags
2654 mal gelesen

Auf der Dornröschenbrücke kann es auch schön sein

Es gibt ein Wort, das mir immer wieder in die Sätze gerät, obwohl es in den wenigsten Fällen seines Auftretens erforderlich ist. Es ist so liebedienerisch, dass ich es nicht etwa rufen müsste und ihm sagen: „Kannst du mal kommen und helfen!“ No Sir, wann immer ich zu schreiben beginne, lehnt es bereits an der Ecke, und hast du nicht gesehen, steht’s auch schon im Satz und versteckt sich zwischen den Wörtern, die ich gerufen habe. Manchmal scheint es sogar über die Fähigkeit zu verfügen, sich unsichtbar zu machen, so dass es mir erst später auffällt, wenn ein Text schon veröffentlicht ist.

Wieso es sich bei mir wohl fühlt, weiß ich … nicht. Es muss einst auch sein Gegenteil bedeutet haben, doch im heutigen Sprachgebrauch bedeutet es nur noch eine Hinzufügung. Wenn es sich aufgedrängt hat und ich bemerke es rechtzeitig, dann ist die Aussage … in der Regel besser, stärker und bestimmter, sobald ich es vor die Tür gesetzt habe. Es scheint mir aus dem Mündlichen zu kommen und ich gebe zu, dass es … schon mal die Sprachmelodie verbessert.

Kürzlich traf ich einen Mann, der sagte unaufgefordert, er habe eine Plage. Das Wörtchen „auch“ rutsche ihm in alle Sätze. Er nahm es gelassen, ja, konnte darüber lachen und ließ es mehrmals hintereinander ertönen. „Auch, auch, auch!“ Wir saßen ans Geländer der Dornröschenbrücke gelehnt, tranken Bier, rauchten und genossen den Sonnenuntergang. Vor uns die Leine, unter uns die Leine, hinter uns die Leine. Ab und zu hörten wir das rhythmische Schlagen der Ruderblätter eines Achters, guckten ihm kurz hinterher, um uns wieder der untergehenden Sonne zuzuwenden.

Wenn die Sonne über dem Leinetal untergeht und nicht vorher hinter einer Wolkenbank verschwindet, setzt sie jedes Mal die Krone eines stattlichen Baumes in Brand. Er steht in der Ferne am rechten Ufer, wo die Leine nach links hinter einer Flussbiegung verschwindet. Ich kann mich aber nicht darauf konzentrieren, denn ich muss mich der Auchplage des Mannes neben mir widmen und gleichzeitig will ich einem jungen Gitarristen zuhören. Er heißt Daniel, und ich habe ihn kennen gelernt, bevor der Auchmann sich zu uns setzte, zusammen mit einem Freund. Der wiederum stützt mir aus unerfindlichen Gründen sein Handy aufs Knie und spielt mir eine Tondatei von Jürgen von der Lippe vor. Ich komme nicht dahinter, was es damit auf sich hat. Irgendetwas habe ich gesagt, das ihn ermuntert hat, diese Tondatei auf seinem Handy zu suchen.

Ich hatte nur erzählt, dass ich gehört hatte, wie eine junge Frau ihrem Freund erklärte, worum die Dornröschenbrücke manchmal unter den Tritten eines Joggers ins Schwingen gerät. Dieser Mensch habe die falsche Lauftechnik. Wenn einer seinen Fuß richtig abrolle, dann wippe die Brücke nicht. Die anderen sind dann wohl Hackenläufer wie übrigens die meisten Menschen. Das weiß jeder, der Obernachbarn hat. Diese hübsche Frau, die von den Armen bis weit auf den Rücken tätowiert ist, gab mir auch ein Beispiel, dass Sprache manchmal klüger ist als der Sprecher, ja, den rechten Sinn erst über den Fehler in eine Aussage legt. Sie sagte über einen unglücklich verliebten Freund: „Der Philipp ist so ein netter, lieber Mann. Kann der nicht einfach sein Gegenteil finden?“

Sie meinte wohl „Gegenstück“ im Sinne der zwei Kugelhälften im Gleichnis von Platon. Aber ihr Versprecher ist näher an der Wirklichkeit. Ein netter, lieber Mann wird in der Regel ganz und gar nicht sein liebes, nettes Gegenstück finden. Es liegt wohl daran, dass die Chance, die 2. Kugelhälfte zu finden, recht gering ist, und daher geben die meisten zu früh auf und bescheiden sich mit ihrem Gegenteil. Nur weiß ich nicht, was von der Lippe damit zu tun hat und bin froh, als die Tondatei zu Ende ist und mich wieder der leisen Gitarrenmusik zuwenden kann. Denn auch Daniel singt vom Schönen Scheitern. Und hier darf das Auch endlich mal stehen bleiben.

Mehr: Hannover

Schalt dein Radio ein:
TT-Musik von: The Bear That Wasn't - Your Huckleberry Friend
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Aufmunternde Töne - Mein surrealer Alltag (19)

Es regnet in die Leine. Schon immer hat mich fasziniert, wenn es ins Wasser regnet, wenn Wasser sich selber empfängt, wenn die Wasseroberfläche unter den eintauchenden Regentropfen blubbert und wallt, wenn die Millionen und Abermillionen Tropfen das schwarz dahinströmende Wasser des Flusses zum Glitzern bringen, ein Meer herbeizaubern von silbrige aufblitzenden Punkten. Das unentwegte Aufspritzen, Sprudeln und Brausen hat etwas geheimnisvoll Wollüstiges.

Ich kann’s nicht mehr sehen, wende mich ab, verlasse die Dornröschenbrücke und gehe zurück in die Stadt. Bin zu betrübt, mich an der Natur zu erfreuen. Es macht mir glatt ein schlechtes Gewissen, wenn ich meinem Kummer nicht genug beachte. Trübe Gedanken, und auch noch Regen. Da lasse ich den Kopf hängen, weiß es aber erst, als ich unter einer Arkade den Mann mit dem Taschentuch bemerke. Kaum sehe ich ihn aus den Augenwinkeln, wie er sich untergestellt hat und ein großes Stofftaschentuch aus der Hose zieht, bin schon vorbei, da höre ich ihn hineintrompeten.

Bitte, wenn man betrübt ist, so richtig tief betrübt, du kennst das Gefühl, dann wünscht man sich, eine Lichtgestalt käme daher und würde ihre zarte Hand auf die von Gedanken erhitzte Stirn legen, sie kühlen und besänftigen. Es muss ja keine Himmelserscheinung sein. Ein gewöhnlicher Mensch könnte das tun. Aber meine Erfahrung sagt mir, wenn man just eine solche Lichtgestalt sich wünscht, wenn man sie wirklich gut gebrauchen könnte, dann kommt sie nicht, ist irgendwo anders beschäftigt.

Deshalb will ich mich nicht beklagen über den Mann mit dem Taschentuch. Er ist mehr, als ich erwarten kann. Wie er nämlich schon in meinem Rücken zweimal kräftig ins Taschentuch prustet, da hört sich das doch verdammt noch mal an wie: „Kopf hoch!“ Ich drehe mich um, in der Hoffnung, er hätte es gesagt, aber seine Nase steckt noch immer tief im Taschentuch.

Ein unerwartetes „Kopf hoch!“, denke ich, ist schon eine echte Aufmunterung. Aber muss es denn so hässlich tönen? Muss diese dankenswerte Aufmunterung ausgerechnet aus Rotz gemacht sein? Ich erwarte ja keine Engelsstimme, aber könnte das „Kopf hoch!“ nicht wenigstens aus dem Schallloch unter seiner Nase kommen? Da kann ich ja schon froh sein, dass die Aufmunterung nicht noch weiter unten ertönt und gemacht ist aus üblen, giftigen Dünsten. Aber selbst dann, wenn man richtig tief betrübt ist, muss man nehmen, was gerade im Angebot ist.

Mehr aus dem surrealen Alltag
1486 mal gelesen

Plausch mit Frau Nettesheim - Internetkunst ist kein Entenrennen - Manifest der Netzpataphysik

trithemius & Frau Nettesheim


Trithemius
Wie gefällt Ihnen der Text Ihres neuen Freundes Paul Duroy, Frau Nettesheim?

Frau Nettesheim
Er ist ausgezeichnet.

Trithemius
Wer, Paul?

Frau Nettesheim
Trithemius, jetzt spielen Sie nicht den Eifersüchtigen.

Trithemius
Na gut, ich finde „Schöner Scheitern“ ebenfalls ausgezeichnet. Duroys Text gibt nicht nur Denkanstöße, sich neu im Leben zu orientieren, sondern ist auch ein künstlerisches Manifest. Es propagiert Kunst, die sich den Zwängen des Marktes entzieht, überhaupt nichts mit diesem Entenrennen zu tun haben will. Sie findet im Leben statt und nicht in Museen oder auf dem Kunstmarkt. "Nimmst du Eintritt?", hat Günter Perplies mich gefragt. Ich sage: "Nein!", sagt er: "Wir auch nicht." Es ist wunderbar, dass er sogleich verstanden hat, worum es geht, obwohl eine Galerie normalerweise vom Kunsthandel lebt.

Frau Nettesheim
Wenn diese Kunst nicht auf den Kunstmarkt drängt, wohin dann?

Trithemius
Sie sucht den Kontakt und die Interaktion mit allen, die sich angesprochen fühlen. Jeder Künstler schafft sein Werk nur zu 50 Prozent. Ein Buch, das niemand aufschlägt, ist tot, ein Bild, das keiner betrachtet, existiert nicht. Die 50 Prozent zum Leben von Bild und Buch geben die Leser, Betrachter und Kommentatoren hinzu, indem sie das Angebot durch ihren Kopf schicken und mit der Bedeutung versehen, die es für sie hat. Aber sie sind bei den klassischen Medien stumm, Rezipienten, keine Produzenten. Im Internet ist es völlig anders. Hier nehmen sie teil an einer Kunst, deren wesentliches Merkmal die Interaktion innerhalb eines Netzwerkes ist. So sind alle interaktiven Projekte des Teppichhauses zu verstehen, die fünf Lesenächte, die Freitagsdiskussion, die Papiere des PentAgrion, das Hin- und Herkommentieren, und die Steigerung ist meine pataphysikalische Forschungs- und Lesereise. Wer mich für eine Nacht beherbergt, für den lese ich, und damit ist er Teilnehmer und Mitgestalter einer sozialen, interaktiven Kunstaktion. Und so verbietet sich, dass es dabei um Geld geht. Geld hat überhaupt nichts verloren in einer solchen Aktion. Das Motto des Teppichhauses ist seit den Anfängen: Klaut alles. Das schließt eine kommerzielle Nutzung aus.

Frau Nettesheim
Wollen Sie aufhören zu essen?

Trithemius
Hab schon mal dran gedacht, aber aus anderen Gründen. Sie lenken mich ab, Frau Nettesheim. Es gibt ja bereits ein neues Mäzenatentum im Netz, Leute sponsern Wikipedia oder die Entwickler von Opensource-Programmen. Verstehen Sie doch, wer Wissenschaft, Literatur und Kunst im Internet anbietet, der wechselt nicht einfach nur vom Papier ins Digitale. Er muss auch seine Denkrichtung ändern, sonst nutzt er das Internet wie eine Litfaßsäule, die ja von dem Buchdrucker Ernst Litfaß erfunden wurde, als Einkanalmedium. Wer das Internet als Einkanalmedium begreift, wer es mit dem Denken der Buchkultur angeht, hat zwar einen Porsche, fährt aber nur im 1. Gang. Es geht um den Aufbau und die Weiterentwicklung von Netzwerken, in denen soziale Energie fließen kann.

Frau Nettesheim
Eine soziale Plastik, wie sie Joseph Beuys propagiert hat?

Trithemius
So ähnlich. Mir gefällt das Wort Plastik nicht, weil es zu statisch klingt. Soziale Netzwerke sind dynamisch, verändern beständig ihre Form, erweitern, verästeln sich, und wo sie sich verdichten, da ist ein schöpferisches Hin und Her, erfasst das Leben jedes Teilnehmers und gibt ihm neue ungeahnte Qualität. Es ist leicht, es hat Witz und steht weit über den bedrückenden Zwängen, die sich in unseren Gesellschaften aufbauen.

Frau Nettesheim
Das klingt hübsch. Haben Sie etwa einen neuen Weg für sich gefunden, Trithemius?

Trithemius
Und einen neuen Kunstbegriff. Es fehlte mir bis vor kurzem die Radikalität, die in Duroys Text zum Ausdruck kommt. Manchmal habe ich noch mit einem Auge zum Printmedium rüber geschielt, überlegt, ob ich wieder mal was für die Titanic schreiben soll und so. Aber das war jedes Mal ein Rückfall in altes Denken, ins Denken der Buchkultur. Das Internet ist keine stumme Erinnerungsoberfläche, es ist wie eine riesige wandernde Parabolantenne, die Impulse auffängt und wieder abstrahlt. Diese Antenne lässt sich nutzen als soziale Vernetzungsmaschine, mit der sich Zeit, Raum und andere Einschränkungen überwinden lassen. Wer daran mitwirkt, verdichtet das Internet und bereichert sein Leben.

Frau Nettesheim
Weshalb Sie sich Internetdichter nennen.

Trithemius
Einer muss den Anfang machen mit der NETZPATAPHYSIK. Schließlich haben wir ein Teppichhaus, Frau Nettesheim, kennen uns also aus mit Knüpftechniken.

''Der Künstler steht zwischen den Tagen wie ein Scharnier." (Paul Duroy)

Lesung im Tausch gegen Nachtquartier

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Eugene Faust: Blogger zwischen Hannover und Aachen aufgepasst!
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Vielen Dank,
Trithemius

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Ich habe Füße gesehen – Mein surrealer Alltag (18)

Hannover, Maschseefest, Promenade am Nordufer. Unglaublicher Trubel. Von links und rechts schieben Menschen jeden Alters vorbei, in Paaren, Gruppen, Rotten, ganze Prozessionen, Publikum wie auf der Kirmes, nur etwas feiner. Es gibt nämlich nicht nur Kirmesfress- und Saufbuden, entlang der Promenade sind doppelstöckige Vergnügungstempel entstanden, zwei Gassen mit aufwendigen Metallkonstruktionen, rappelvoll mit standhaften Trinkern und Essern. Hier herrscht Partystimmung. Man hat die besten Freizeitsachen an und ist fest entschlossen, sich zu amüsieren. Zwischendrin kleine alkoholisierte Gruppen in gleichen T-Shirts mit launigen Aufschriften. Sie feiern Junggesellenabschied. Wen’s erwischt hat, leicht zu erkennen, denn die Eheaspiranten müssen originelle Kostüme tragen, und der Gipfel der Originalität, man biegt sich vor Lachen, sind Jungmänner in Frauenkleidern. Die Gruppe „Eheknast“ steht gleich am Eingang im Weg und belästigt Passanten mit albernen Bitten „für einen guten Zweck!“

Als Alltagsethnologe müsste ich mich eigentlich um diese wild grassierende Mode kümmern, aber ich hoffe fest darauf, dass andere das machen. Es ist nicht verlockend. Einmal sah ich im Bremer Hauptbahnhof eine solche Jungmännergruppe, und der zukünftige Ehemann war gehalten, sich ein Kondom über den Kopf zu ziehen, was ihm aber einfach nicht gelingen wollte. Er hat es immer und immer wieder versucht, hatte wohl einen 20er Pack Kondome. Ihm flogen die Kondomfetzen nur so um die Ohren. Vielleicht zu seinem Glück. Am Ende wäre er noch im 20. Kondom erstickt. Und wer macht dann Mund-zu-Mund-Beatmung?

Ich sitze mit vielen anderen auf der Kaimauer des Maschsees und schreibe was in mein Reporterblöckchen. Vor mir flanieren unzählige Menschen. Da stellt plötzlich ein dicklicher Mann seinen nackten, sandalenbewehrten Fuß direkt neben meinen Tabak und krempelt erst rechts, dann links seine Hose auf. Er lässt sich Zeit, so dass ich in den ausgiebigen Genuss der Nähe und Betrachtung seiner klobigen Füße komme. Trotzdem, als er endlich fertig gerüstet da steht, hat er es nicht gut gemacht. Während nämlich die Krempelung seines rechten Hosenbeins direkt unter seinem Knie endet, spannt die linke über seiner dicken Wade. Zudem ist zu tadeln, dass die helle Freizeithose links wie rechts nicht in sauberen Lagen gekrempelt ist, sondern unordentliche, wurstige Faltungen aufweist.

Noch einmal zurück. Ich sitze auf der Mauer, habe den Maschsee im Rücken, höre hinter mir die große Fontäne rauschen, vor mir zieht unglaublich viel Volk vorbei, und während ich das gerade aufschreiben will, fällt ein Schatten auf mich. Ein dicklicher Mann stellt neben mir seine Füße abwechselnd auf die Mauer und krempelt seine Hosenbeine hoch. Er nimmt sich Zeit, denkt im Traum nicht daran, ich oder auch nur irgendeiner könnte Anstoß daran nehmen, so hautnah mit seinen nackten Füßen konfrontiert zu sein, sondern verschafft sich wohlgemut ein wenig Kühlung seiner offenbar erhitzten Waden. Und wie er gerade mit dem rechten Hosenbein fertig zu sein glaubt, da fällt ein weiterer Schatten auf mich, etwas kleiner als zuvor, und verschmilzt mit seinem. Eine dickliche Frau ist in unseren Intimbereich eingetreten, im Zweifel seine „bessere Ehehälfte“. Sie redet was, er antwortet maulfaul, bis er auch mit dem linken Hosenbein abgerechnet hat. Dann wendet er sich um, geht vier Schritte weiter und stellt sich zu einem anderen Paar.

Derweil ich noch seine unordentliche Krempelung moniere, die ebensogut meine Sache gewesen ist wie seine, schließlich habe ich ein gutes Stück meiner Lebenszeit zusammen mit seinen Füßen verbracht, und sein Schnaufen habe ich noch immer im Ohr, während ich also mein ästhetisches Hosenaufkrempelgefühl beleidigt sehe, gibt seine Frau ihrem Fraternisierungsimpuls nach und stellt ebenfalls ihren rechten Fuß zu mir auf die Mauer, dann den linken, macht’s genau wie er, aber ein wenig fixer.

Wie sie sich aufrichtet und sich zu ihrem Mann begibt, da hat sie ihre Hosen deutlich sauberer gekrempelt, obwohl sie einen mächtigen Rucksack auf dem Rücken trägt, der geeignet wäre, sie nach hinten zu ziehen und ihr das Aufkrempeln schwer zu machen. Er ist etwa so groß und rund wie der Bauch ihres Mannes. Solche Ergänzung, solch wundersame Eintracht, solche Gleichheit im Verschiedensein habe ich lange nicht gesehen. Ist Maschseefest.

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