Schönes Scheitern - empfohlen von Gastautor Duroy

Als ich wartend vor einem Friseurladen saß, da fuhr vor meinen Füßen ein Radfahrer vorbei, ein Mann Mitte 30 ohne besondere Merkmale. In der Rechten hielt er am Lenker einen rosafarbenen Luftballon, der kunstvoll zu einer rosafarbenen Giraffe zusammengeschlungen war. Und just auf meiner Höhe sagte der Mann zu ihr: " Bist du damit mal wieder nicht einverstanden?" Die Giraffe an seinem Lenker wippte "Nein" und "Ja", was in der Sprache von rosafrabenen Luftballon-Giraffen eins wie das andere meint. Und ich dachte noch, übt der vielleicht Bauchreden?

Mit dieser Deutung des Geschehens vor dem Friseurladen bin ich natürlich schön gescheitert. Vermutlich hat der junge Mann gar nicht mit seiner rosafarbenen Luftballon-Giraffe diskutiert, war gar kein jung aufstrebender Bauchredner, sondern hat telefoniert mit einem widerspenstigen Geist. Noch schöneres Scheitern empfiehlt Ihnen Teppichhaus-Gastautor Paul Duroy. Nachdem ich seinen Text unter der Stehlampe in seinem Blog gelesen hatte, war ich sehr erleichtert.


Schöner Scheitern

oder: über die nicht geringe Kunst der aesthetischen Resignation
von PAUL DUROY


''Wenn du kurz davor bist: kurz vor dem Fall;
und wenn du denkst: ''fuck it all'',
wenn du dir sicher bist, niemand kann dich mehr verstehen:
Kapitulation, ohoho, Kapitulation, ohoho, Kapitulation ohoho ohoho...''

(Tocotronic, Kapitulation)

Als ich vor ca. drei Jahren meine Arbeit an meinem Essay zur Frage der modernen Aesthetik, ''Bruchstueck'', beendete, kam im Sommer 2007 das wundervolle Tocotronic-Album ''Kapitulation'' heraus. Das Euphorisierende daran war, dass ich fuer mich, noch gaenzlich nichts vom Erscheinen einer SOLCHEN Platte ahnend, einen Ansatz gefunden hatte, zum modernen Leben im Kapitalismus zu stehen, den diese Band dann (davon natuerlich voellig unabhaengig) ebenso bestritt.

Worum geht es in dieser neuen Aesthetik, in dieser Form, das Leben schoen zu leben, sofern das im totalen Konsumzeitalter noch moeglich ist? Schauen wir uns noch einmal das Eingangszitat an: hier klingt eine gewisse Larmoyanz an, die allerdings sofort zerstaeubt, wenn man sich das Lied anhoert: das Ganze wird selbstbewusst in sueßen hymnischen Klaengen vorgetragen, stolz, ein kleines Programm der Unabhaengigkeit. Hier wird ein negativ konnotierter Begriff (Kapitulation) einfach mit positivem Vorzeichen versehen, einvernahmt und sympathisch gemacht. Hier braucht es nicht die Radikalitaet eines: ''Macht kaputt, was euch kaputt macht.'', sondern einfacher: kapituliere. Lauf nicht mit im Hamsterrad, dreh deine eigene Muehle, mach was Schoenes aus deinem Scheitern. Die ganze Platte atmet diesen Geist, kauft, kopiert oder klaut sie euch...es lohnt sich wirklich!

Der Eingangs-Track ist uebrigens ''Mein Ruin'', ein Titel, der Jammer und Suhlen im eigenen Leid anklingen laesst, aber dann doch so so viel anders ist, als man vermutet. Hier geht es darum, den eigenen Ruin zu aesthetisieren und das darf dann gern stolz klingen, wie ein Fanfarensatz in einer Bewerbung:

Mein Ruin ist mein Bereich, denn ich bin nicht einer von euch,
mein Ruin ist, was mir bleibt, wenn alles andere sich zerstaeubt.

Mein Ruin das ist mein ZIEL, die Lieblingsrolle, die ich spiel,
mein Ruin ist mein Triumph, Empfindlichkeit und Unvernunft,
eine Befreiung, eine Pracht, sanfter als die tiefste Nacht,
die ab jetzt fuer immer bleibt und ihre eigenen Lieder schreibt.

Mein Ruin ist mein Bereich, denn ich bin einer unter euch
mein Ruin ist, was mir bleibt, wenn alles andere sich betaeubt.


Und wenn es dann nur Illusion war, zerschellt der Lebens-Kuenstler wenigstens an seinen eigenen Traeumen statt an der Leistungsgesellschaft:

wie eine Welle, die mich traegt und mich dann unter sich begraebt.

Wenden wir nun unseren Blick meinem ''Bruchstueck'' zu. Ich schrieb dieses Konvolut damals vorwiegend auf Reisen in der Bahn, in Mitfahrgelegenheiten und beim Trampen nach Dortmund, Berlin und nach Frankreich, warum auch immer. Es ist aus dem Geist des Unterwegsseins und des Wandels geboren, ein getriebenes Werk, ein fieberhaftes Werk, ein transitives Werk, eine Aesthetik der Resignation. Damals hatte ich Auszeiten genommen von meiner Arbeitsmuehle, in der ich zum Teil 12 Stunden am Tag arbeitete, leer war, ausgebrannt, perspektivlos, gefangen in der Plackerei noch des Nachts. Ich nahm mir immer mehr Auszeiten, Resturlaub, Krankentage und ''Sabbaticals''. Ich war drin im System, aber kam nicht raus und brauchte einen Bruch...zunehmend bekam ich das gefuehl, auf meinen erratischen (und nur selten sinnvollen) Reisen mich selbst zu suchen, jemand, den ich verloren hatte, jemand den es zu finden galt. Das Ding faengt so an:

''Ich koennte es beschreiben als Projekt meiner Erweiterung, eine gelassene Expansion meiner selbst. Dieses Projekt ist der Versuch des ungezielten Ueberschreitens meiner sonst so kleinen Moeglichkeiten. Der Sprung aus sich selbst heraus ins Endlose...''

Etwas weiter der kryptische Satz:
''der Künstler steht zwischen den Tagen wie ein Scharnier.''

Wo andere daran denken, Zeit zu verlieren, wenn sie nicht arbeiten, kam ich zu dem Ergebnis: ''Es wird tausende Augenblicke kosten, den EINEN Augenblick der Fuelle zu beschreiben oder ihn ueberhaupt erst durch die Beschreibung zu fuellen, aber gerade DAS wird die Kunst sein!''

Auch und gerade am Kuenstlerweg kann man wie in der ''freien Wirtschaft'' scheitern, aber man scheitert wahrhaftig und gerade dieses Scheitern ist schoen...und es erfolgt unter Tanz und Triumph, Gesang und Heiterkeit statt Jammern und Wehklagen, dass man es nicht zum Großverdiener gebracht hat. Das ist wahre Resignation, selbstauferlegtes, autonomes Scheitern, ein rauschendes Fest der Moeglichkeiten, eine wahnwitzige Verschwendung seiner selbst, der Raub von immenser Arbeitszeit aus der Leistungsgesellschaft, die in die Kunst und das erfuellte Leben wandert. Deshalb ''Bruchstueck''...glatte Flaechen schneiden erst, wenn sie gebrochen oder verkratzt werden. Dann tun sie weh.

Und der Kuenstler muss gebrochen sein, wie eine geborstene Flasche in Scherben stehen/liegen, an der er sich selbst, an der andere sich schneiden...aber wehtun muss es. Und wenn es wehtut, wird aber nicht geweint, sondern gelacht ueber die Erkenntnis, dass wir noch fuehlen koennen, dass uns der Konsum und all das globale klebrige Infotainment noch nicht gaenzlich paralysiert haben, dass da mehr ist, das es nur zu entgrenzen gilt durch einen jeden von uns, ein großes Scheitern in einem jeden von uns, das nur darauf wartet, zelebriert und betanzt zu werden, das nur darauf wartet, uns zu umarmen und suess zu kuessen...

Das wird die wahre Revolution sein: dass wir nach unserem eigenen Scheitern suchen...sic transit gloria mundi. Und wir werkeln und flicken weiter an alledem, fangen dies an, hoeren jenes mittendrin auf, sind herrlich inkonsequent, widerspruechlich und scheitern unter lautem Lachen an unseren eigenen, nicht fremden!, Zielen...und die frohe Kunde noch dazu: es bedarf nicht mehr der großen Wuerfe und der großen Werke, die zeitlos vor uns stehen: es reichen schon kleine Erfolge auf dem Weg des Scheiterns und der lebensbejahenden Resignation in Ratlosigkeit und wie heißt es ebenfalls so schoen in dem Song der neuen Tocotronic-Platte ''Schall und Wahn'':

Was wir niemals zu Ende bringen...kann kein Moloch je verschlingen.
(Tocotronic, Keine Meisterwerke mehr)

Der Moloch des modernen totalitaeren Global-Kapitalismus wird sich seine grausig-gierigen Zaehne an uns ausbeißen, wenn wir endlich damit anfangen, die Dinge nicht mehr produktiv zu Ende zu bringen. Der schoene Rest, die Zeit, die bei alledem fuer uns abfaellt, die Verwunderung ueber unsere neuen Moeglichkeiten und die Erleichterung darueber, wie schoen wir scheitern koennen, wenn wir denn nur wirklich wollen, das ist wahrhaftige Groeße...

und jetzt geht raus und lebt und stuermt, tanzt, bewegt, schneidet, brecht und jubelt, lobsingt und faulenzt...wir sind auf einem guten Weg...

Paul Duroy - das gleiche unter seiner Stehlampe

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Radfahren ohne Kette - Mein surrealer Alltag (17)

Vor Monaten bekam ich ein Fahrradschloss geschenkt, nicht so ein dünnes Kabel, auf das ein Fahrraddieb nur spucken würde, sondern eine schwere ummantelte Kette mit einem mächtigen Verschluss. Wenn der einrastet, dann für die Ewigkeit. Kette und Schloss könnten einen Elefanten tragen, aber das habe ich natürlich nicht ausprobiert. Mein Vermieter regt sich sowieso schon auf, dass der ganze Hof mit Fahrrädern zugestellt ist. Vermutlich bekäme er einen neuen Anfall, wenn ich auch noch einen Elefanten mittenrein hänge.

Manchmal dachte ich beim Radfahren, ich hätte ein dickes Kind auf dem Gepäckständer oder einen Kasten Bier. Aber da hing nur mein Fahrradschloss. Und die Leute erst, die haben, wenn ich vorbeifuhr, bestimmt gedacht, da kommt wieder der Mann auf dem Fahrrad, das wie ein mächtiges Fahrradschloss aussieht. Da hatte ich oft den Impuls zu sagen: He, Leute, was ihr seht, das ist nicht mein Fahrrad, sondern nur das Fahrradschloss. Das Fahrrad befindet sich darunter und ist von klassischer Bauart.

Man kann sich denken, dass ich dieses übermächtige Fahrradschloss nicht immer mitnehme. Manchmal will ich meine Freiheit und einigermaßen unbelastet sein. Glücklicherweise bekam ich einen beleuchteten Schlüssel für das Schloss und einen Ersatzschlüssel. Da habe ich es manchmal einfach im Hof angeschlossen, vielmehr den Hof an mein Schloss. Seither ist der Hof noch nie gestohlen worden, denn selbst ausgemachte Haus- und Hofdiebe würden vor dem Anblick meines Fahrradschlosses erblassen. Das könnte mein Hausbesitzer mir ruhig danken, statt sich über ein paar läppische Fahrräder aufzuregen.

Jedenfalls war ich gestern ohne mein schweres Schloss unterwegs. Und als ich an einem Supermarkt auf der Limmer Straße vorbeikam, dachte ich, wenn ich mal wieder essen soll, dann könnte ich hier einkaufen. Vor dem Eingang stand ein Berber und hielt der ein- und ausströmenden Kundschaft einen Plastikbecher hin. Ich stellte mein Fahrrad neben ihn und sagte: „Hallo, könnten Sie mal eine Weile auf mein Fahrrad aufpassen?“ Dabei legte ich ihm einen Euro in den Becher. „Aber ja“, sagte er. „Ich stelle mich direkt daneben!“ und stellte sich direkt daneben.

Nach dem Einkauf holte ich beim Bäcker vor den Kassen noch zwei Stück Kuchen in getrennten Tüten. Der Rheinländer kauft ja nichts, er holt es, bezahlt aber dafür. Draußen stand der Berber schützend vor meinem Fahrrad. Er hatte es parallel zum Schaufenster geparkt und sagte: „Ich habe Ihr Rad zur Seite gestellt. Ein Platz wurde frei, da habe ich es dahin gestellt.“
Ich dankte ihm, hielt die Tüten hoch und sagte: „Kirschstreusel oder Walnussplunder?“
„Ach, nein, danke“, sagte er. „Ich habe ja keine Zähne mehr und hab es nicht so mit Kuchen.“ Da gab ich ihm noch mal Geld, versäumte aber zu fragen, was er denn überhaupt noch essen kann. Vermutlich nur Suppe. Jedenfalls dachte ich, es ist gar nicht so einfach, jemandem eine Freude zu machen, wenn man nicht mal weiß, dass er keine Zähne mehr hat. Also, wenn Hilfe zu weit oben ansetzt und den anderen zu sehr festlegt, dann ist’s keine Hilfe. Er hat mir meine Ungeschicklichkeit aber nicht verübelt, sondern rief mir noch so was wie „Gehabt euch wohl!“ hinterher.

Zu Hause schloss ich den Hof an meinem Rad fest und war ziemlich froh, dass ich mal wieder ohne Schloss unterwegs gewesen war. Mitte August werde ich eine Lesereise von Hannover nach Aachen machen, ähnlich wie er hier. Headphones für unterwegs habe ich mir letztens schon geholt.

Trithemius liest aus pataphysischen Geheimpapieren

ist der Arbeitstitel. Für dieses Abenteuer hole ich mir ein neues Fahrrad. Mein altes ist ein bisschen müde von den vielen Anstrengungen und ruht dann in meinem Fahrradschloss so bequem und sicher wie in einer Hängematte.
Lesung im Tausch gegen Nachtquartier Vorankündigung in anderen Blogs:

Eugene Faust: Blogger zwischen Hannover und Aachen aufgepasst!
Heinrich: Wer mit dem Teppich fliegt, braucht kein Kettenschloss
videbitis: Aushang rechts neben der U-Bahnstation am Neumarkt
Einhard: Wichtiger Hinweis - "Was zum Henker ist pataphysisch?"
...
Vielen Dank,
Trithemius

Mehr über den Leseort Kerstensche Pavillon
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Was am Feuer beredet und bei Tag erfasst wurde - Mein surrealer Alltag (16)


Wie das
zuging, weiß ich nicht. Wie konnten meine Truppen derart aufgerieben werden? Wieso brach die Nacht so rasch über sie herein, so dass sie in der Finsternis umhertappten und versprengt wurden? Für den Augenblick habe ich einen Ort der Sammlung gefunden. Hier glimmt ein Herdfeuer. Das Holz ist nass und will nicht recht brennen, aber es findet sich mehr als ich erhofft hatte. Mit und mit treffen Truppenteile ein. Die Leute sind im schlechten Zustand. Ihr Stolz ist gebrochen. Stumm hocken sie sich ans Feuer und besehen ihre Wunden.

Die Unterführer sitzen abseits, und ich höre, wie sie leise gegen mich murren, gegen mich, ihren Hauptmann. Wie konnte er uns in diesen Einsatz schicken, fragen sie, wo doch selbst wir Unterführer wussten, dass er kaum zu gewinnen war. Wir waren tapfer und stark, wir hatten das Land beinah befriedet und bauten auf, was zuvor am Boden lag. Aber es mangelte an allem, und dieser Mangel hat uns eine offene Flanke beschert. Sie war nicht zu sichern, und wir wussten, dass dieser Leichtsinn bestraft werden würde.

Sie haben Recht, meine Unterführer. Mir ist es nicht gelungen, die erforderlichen Mittel bereitzustellen. Aber ich dachte, noch Zeit zu haben und bemühte mich, bis die Natur sich mit einer Gewalt gegen uns wandte, wie ich sie kaum zuvor erlebt habe. Es ist wahr, die Nacht kündigte sich an. Doch dann war’s kein Gleiten mehr, sondern ein Sprung gewesen. Grad konnten wir einander noch sehen, grad zuvor sahen wir uns im milden Licht der untergehenden Sonne, aber dann war urplötzlich totale Finsternis. Und Aufruhr und Verwirrung und blindes Umhertappen. Dann, nach dem ersten Schock die verzagten Rufe. Gar schrecklich hallten sie durch die Finsternis, begleitet von großem Wehklagen aus dem Dickicht von Hader und Verzweiflung, Not und Elend.

Nicht, dass er seine Unerfahrenheit ins Feld führen könnte, sagen die Unterführer. Er wusste es, denn hat er uns nicht zuvor versammelt und uns die Schwere des Einsatzes vor Augen geführt? Dass der Nachschub nicht gesichert wär, hat er uns gesagt. Und dass die Sache überhaupt nur zu machen wäre, wenn fremde Hilfe käme. Trotzdem sandte er keine Boten aus, sondern stand nur am Waldrand, den Fuß auf einem Stein und schaute wartend in die Ferne.

„Uns Pioniere hat er völlig alleine gelassen! Er nannte nur ein ungefähres Ziel, gab aber nicht an, wo Wege, Straßen und Brücken hin müssten. Doch das ist kein Wunder, denn er hatte nur einen ungenauen Plan von dem Land, in das er uns geführt hat.“

„Uns von der Versorgung hat er niemals gesagt, dass wir gut haushalten müssen, dass wir nur Verpflegung für wenige Tage hätten. Er war wohl anderweitig beschäftigt, vermutlich mit sich.“

Das finde ich unverschämt von meinem Versorgungsfeldwebel. Selbst wenn er Recht hätte, aber das zu sagen steht ihm nicht zu. In meiner Welt gilt ein anderes Gesetz. Wenn das Ziel gut ist, stellen sich auch die Mittel ein. Das dauerhafte Fehlen der Mittel ist ein Argument gegen das Ziel. Wie kann ich Boten aussenden, wenn ich diesem Ratschluss unterliege? Soll ich sie verschleißen, wenn auch ihre Hilfe nicht reicht? Wir wollen den Morgen abwarten und den Schaden in Ruhe betrachten. Ja, in der Nacht hat sich alles in sich zurückgezogen und war allein mit seinem Schmerz, allein in seinem Schlaf. Doch unter der hellen Sonne, da sieht die Welt wieder anders aus. Da reckt sich alles, was in der Nacht am Boden lag. Man staunt und schaut sich um und stellt mit großer Erleichterung fest, das Leben geht weiter, und alles entfaltet sich auf’s neu. Aber es ist etwas anders als am Tag zuvor. Alles, was sich regt, das ist auch ein bisschen gewachsen.

Die Unterführer horchen auf. „Ei, das ist ja eine feine Philosophie!“, ruft der Versorgungsfeldwebel und spuckt ins Feuer. „Dann braucht der Herr sich nur hinzusetzen und sich was zu wünschen, schon kommen ihm die gebratenen Tauben in den Mund geflogen. Und kommen sie nicht, dann ist’s halt Schicksal, göttlicher Plan oder so’n Zeug. Dann wird der Herr Hauptmann eben verhungern und uns gute Leute gleich mit verderben.“

„Das ist gut gesagt, Feldwebel, aber tifft nicht den Kern. Ich weiß sehr wohl, dass man sich regen muss und sich placken. Aber es rege und placke sich jeder nur in dem Geschäft, indem er eine goldene Hand hat. Wenn nach den Gesetzen der Plausibilität ein Einsatz nicht zum Erfolg führen kann, dann darf man nicht noch fremde Truppen mit hineinziehen. Aber auf sich selbst hoffen, darf man wohl. Und das habe ich getan. Ich bin Pataphysiker und ihr seid es auch. Also schickt euch darein. Wir sind die Hüter und Beschützer des Einzelfalls und machen unsere Sache gut, egal wie schlecht die Verhältnisse sind.“

Da waren sie erstmal still. Aber das lag nicht allein an meinen Worten. Die waren nur Hintergrundmusik. Sie waren still und schöpften Hoffnung, denn die Sonne ging plötzlich auf.
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Die Komiker streiken - Mein surrealer Alltag (15)


Der Impuls, etwas
Lustiges zu schreiben, flog mich an, gerade eben. Ausgerechnet jetzt? Das erstaunt mich ein wenig. Aber gut, sage ich hoffnungsfroh, was ist denn Lustiges im Angebot?

Nichts, absolute Leere. Die lustigen Ideen wenden mir den Rücken zu, haben die Hände in den Hosentaschen und pfeifen sich eins, gucken die Katze aus dem Baum und ulken: „Keinen gesehen!“ Albernes Pack! Einer scheint mich zu bedauern, wie ich da von allen geschnitten werde, wendet sich um und sagt: „Ich könnte einen Witz erzählen.“ Aber zum Glück fiel ihm dann doch keiner ein.

Man könnte jetzt sagen, demnach wäre meine Suche nach Humor gescheitert. Das freilich bestreite ich entschieden.

Abgelegt unter: Mein surrealer Alltag
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Papiere des PentAgrion - 2.7 Große ist kleine Welt


Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den Socken - Folge 2.3 Realer Ruch des Blutes - Folge 2.4 Der Autor ist verwirrt - Folge 2.5 Planet der Postboten - Folge 2.6 Forschungsreise durch den Kopf und andere Netze

Jeremias Coster, Professor für Pataphysik und Leiter des Instituts für Nachrichtengeräte der RWTH Aachen, hat Käse gekauft, alle möglichen Sorten, ungefähr fünf. Er selbst isst keinen, also steht der ganze Käse meinetwegen auf dem kleinen Balkontisch. Wenn man mehr haben kann als man will, das nennt man Luxus. Ich säbele mir Altamsterdamer Käse aufs Brötchen. Das ist schon mehr als ich brauche, denn eigentlich brauche ich wenig. Ich bin auf dem Land aufgewachsen, da hegte man früher keine großen Ansprüche. Und genießen mag ich sowieso nicht, wo mein Herz doch immer wieder einzufrieren droht, trotz der brütenden Schwüle dieses Morgens.

Auf Costers Balkon, das ist wie über der Stadt zu sitzen. Coster hat seine Stadt unter sich, ist auf Augenhöhe mit den Kronen prachtvoller Bäume und hoher Türme. Der Blick geht bekanntlich zum Lousberg hinüber, und es sind Luftlinie mal gerade zweieinhalb Kilometer bis zur anderen Seite der Stadt. Das hat mir Coster in der Nacht gesagt. Aber genau weiß ich es nicht mehr. Da aber Coster auch alles vergessen haben will, was wir in der Nacht beredet haben, kann’s mir egal sein. Wer schnell geht, ist jedenfalls in etwa 20 Minuten drüben.

Coster sitzt mit dem Rücken zu seiner Stadt, seinem Netzwerk, seiner sozialen Plastik, wendet ihr schnöd den Rücken zu und schneidet sorgfältig „ein Tomätchen“. Ist’s eine Zweikammer-Tomate, hat sie drei oder vier Kammern? „Wenn du eine Dreikammertomate aufschneidest, siehst du einen Mercedesstern“, hat Coster gesagt. In seiner Küche hängt eine Zeichnung, mehr eine Schautafel, wo er auf einzelnen Bildern die Tomaten selbst und die Schnitte durch die verschiedenen Tomaten zeigt. Mit einer kleinen, gezielten Handschrift ist dabei die gesamte Costersche Tomatenphilosophie erklärt. Etwas Ähnliches hat er mit Sektkorken gemacht, aber ich weiß nicht mehr, was. Es gibt auch eine Bildserie, auf der er die kleinen Kaffeemilch-Plastikdöschen zeigt, deren Aludeckel man auf- oder abreißen muss. Coster hat untersucht und gezeichnet, wie es am besten geht.

Ich bin froh, dass er sich mit scheinbar banalen Dingen beschäftigt. Da lerne ich von ihm. Rätselhaft ist mir allerdings Costers Kugelsammlung innen neben der Balkontür. Hundert Kugeln aus unterschiedlichen Materialien hatte er sich vorgenommen zu sammeln. Zuletzt schenkte man ihm einen leeren Kugelfisch, der nun obenauf liegt und für immer sein Maul aufreißt. Er war die hundertste Kugel und komplettierte die Sammlung. Nun ist ja das Kugelige durchaus ansprechend, wenn’s einen nicht gerade blöd anglotzt wie ein ausgehöhlter Kugelfisch. Aber diese einhundert Kugeln muss Coster gelegentlich abstauben, wenn sie offen auf dem Teppich liegen. Das würde mich abschrecken. Und der Kugelfisch erst. Er hat kleine Stacheln und kann folglich nicht gewischt, sondern muss gebürstet werden. Das hätte sich Mama Kugelfisch wohl auch nicht träumen lassen, als sie irgendwo im japanischen Meer ihren Laich absetzte, dass eines ihrer Jungen so weit rumkommen würde, um zuletzt bei Coster auf 99 anderen Kugeln zu verstauben. Verstauben! Frau Kugelfisch kennt nicht mal das Wort.

Aber angenommen, so ein Kugelfisch käme ursprünglich gar nicht aus dem japanischen Meer. Angenommen die Kugelfische wären hier fremd. Sie stammten vom Wasserplaneten eines Sonnensystems im Pferdekopfnebel. Ihr Heimatplanet wäre dabei gewesen auszutrocknen. Da hätten sich die letzten Kugelfische vor Äonen aufgemacht, neuen Lebensraum zu suchen und irgendwann hätten ihre Nachfahren auf dem Planeten Erde gewassert. Tief im japanischen Meer hätten sie eine ganze Weile gut gelebt. Aber seit einiger Zeit geschieht ihnen Merkwürdiges, was ihre Rasse auszurotten droht. Einer nach dem anderen wird von seltsamen Wesen rausgefischt und gefressen. Die Kugelfische sind ganz ratlos, denn diese Wesen leben nicht wie sie im Wasser, sondern irgendwo zu ihren Köpfen in einer für sie unzugänglichen Welt. Diese Wesen sind Allesfresser, und obwohl ihr Metabolismus den Kugelfisch nicht verträgt, fressen sie ihn doch, aus purem Mutwillen.

Ich habe schon am Münsterplatz unter Linden gesessen und gefrühstückt, derweil Coster noch schlief. Er steht immer erst um halb elf Uhr auf. So ist mein zweites Frühstück rasch beendet. Coster räumt ab und befiehlt, ich solle in Ruhe noch eine rauchen. Ob auf meinem Amsterdamer Käse vielleicht Außerirdische gelebt haben, die ich, weil sie so klein sind, nicht gesehen habe und gefressen? Habe ich versehentlich ganze Weltreiche vertilgt, eine Milliardenbevölkerung ins Unglück gestürzt? Nach dem ersten Bissen muss es schrecklich zugegangen sein in dieser Welt. Frauen weinten um ihre Kinder, Männer um ihre Autos, die öffentliche Ordnung zerfiel. Despoten rissen die Macht an sich. Erbarmungslose Religionen kamen auf, man brachte Opfer, meuchelte die junge, unschuldige Brut, um die Götter zu besänftigen, zettelte furchtbare Kriege mit den Nachbarn an, um deren vermeintlich sicheres Land zu erobern. Aber dann, das Meucheln, Morden und Brandschatzen ist noch voll im Gange, da reiße ich mein Maul auf und zerfetze und verschlinge den halben Kontinent mit Mann und Maus. Was soll ich machen? Ich habe kein einziges der Gebete gehört. Das ganze Betteln und Flehen, die Opfergaben, nichts davon ist bei mir angekommen. Ich bin einfach zu groß, bin ein ahnungsloser Riese.

Aber in meiner Welt bin ich das ganz und gar nicht. Da leide ich grad wie ein Hund. Warum nur? Wozu all das Leid in der Welt? Gibt es in einer für uns unbegreiflichen Dimension eine Lebensart, die sich schmausend ernährt von den Schmerzen und vom Leid dieses Planeten? Feiert man gerade mal wieder ein rauschendes Fest, und auch mein Herzblut schwappt in einem Pokal, den eine gierige, verwöhnte Göttin an die lackierten Lippen führt? Kennerisch schmatzend zieht sie mein Herzblut durch die Zähne, gurgelt damit und sagt: "Vorzüglich, dieser Tropfen." Und der Gastgeber tritt geschmeichelt heran und sagt: "Ja, den Tropfen habe ich vor Tagen in einem entzückenden kleinen Weingut in der Provence entdeckt. Seine Bitterkeit ist vorzüglich." Ähm, Tschuldigung. Mit dem letzten Satz bin ich ein bisschen aus dem Bild gerutscht. Mein Herz wuchs natürlich nicht in einem Weinberg, wurde nicht bedenkenlos gelesen und mit Füßen getreten. Auch wurde das ausgequetschte Herzblut nicht in Fässern gesammelt, vergoren, und auf Flaschen gezogen. Das fühlt sich nur so an.

Wie aber muss man sich die Leute von Usjh vorstellen, dem angeblichen Heimatplaneten des PentAgrion? Was PentAgrion über die menschliche Rasse sagt, lässt vermuten, bei ihm zu Hause geht es anders zu. Dann könnte ich mir vorstellen, die Wesen von Usjh sind zweigeschlechtlich. Oder sie sind sich selbst genug, brauchen nur sich, um sich fortzupflanzen, einfach durch Zellteilung. Was weiß ich. Jedenfalls scheinen sie nicht oder nicht mehr dem Diktat einer Tiernatur unterworfen zu sein, deren Streben nach Fressen, Macht und Paarung schier unendliches Leid hervorzubringen versteht, bis hin zum Meucheln, Morden und Brandschatzen, bis hin zur totalen Ausplünderung des Planeten und seiner Vernichtung.

Von Westen her, über den Höhenrücken des Stadtwalds hinweg ziehen schwarze Wolken auf. Als Coster zurückkommt, schaut er hoch und sagt: „Ich glaube, du gehst am besten sofort, sonst wirst du nass.“ Da packe ich meinen Kram und mache mich auf. In seiner Diele umarmen wir uns, und ich danke ihm für all die Wohltaten, die er mir hat zukommen lassen. Er ist jetzt froh, mich los zu werden, denn er hat alles getan für mich, was einer nur tun kann, der einen verwirrten Freund beherbergt. Am Vorabend hat er sogar auf seiner Trompete geblasen, die er kürzlich einer Freundin abgekauft hatte, die ein wenig klamm gewesen und Erbstücke hatte verhökern müssen.

Fortsetzung: 2.8 Ein Netz wird zerfetzt

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Das systematische Verzeichnis zu den Papieren des PentAgrion - erhellende Zitate, Hintergrundinformationen, Spekulationen, interne & externe Verknüpfungen, PentAgrion in anderen Blogs


Schlüssel zu den Papieren des PentAgrion,
weitere Handlungsstränge und diverse Verknüpfungen
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Die Papiere des PentAgrion - 2.6 Forschungsreise durch den Kopf und andere Netze

Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den Socken - Folge 2.3 Realer Ruch des Blutes - Folge 2.4 Der Autor ist verwirrt - Folge 2.5 Planet der Postboten

Wie ich da sitze und in ein Buch schaue, blitzt plötzlich die freundliche Abendsonne durch die Bäume vor meinen Fenstern, und ich sehe die Haarstränen vor meinem rechten Auge glitzern. Ich lasse den Kopf gesenkt, schaue nicht hinein in den Sonnenball, sondern will Sonnenlicht auf meinem Haarschopf. Da stelle ich mir vor, es würde durch dringen, in meinen Schädel fallen und ein paar dunkle Kammern erhellen. Bald habe ich Lust, wieder zu schreiben und kritzele unschuldige Papierblätter voll. Sie haben sich nicht direkt beschwert bei mir, aber als ich mit ihnen fertig war, sahen sie doch recht vorwurfsvoll aus und sagten: „Vorher waren wir hübscher!“ Ich gebe zu, sie sind mir etwas wirr geraten, weil die Worte so ungeordnet über mich kamen. Aber auch nach dem Durchkämmen ist nicht jedes am richtigen Platz, vor allem, was die Chronologie der Ereignisse betrifft.

Früh morgens vor einem Café. Am Tisch hinter mir reden zwei Männer. Dann höre ich den in meinem Rücken sagen: „Ich fahre einmal im Jahr nach Thailand, ins Land der jungen Frauen.“ Was für ein Geständnis an einem unschuldigen Sommermorgen um 8:30 Uhr, denke ich, derweil ich sehe, dass mir Lindenblütenblättchen in den Kaffee fallen. Es ist freilich schon recht warm, beinah heiß, trotz der frühen Stunde. Eben im Café an der Theke blieb der schmucken Bäckereifachverkäuferin ein Zwei-Euro-Stück am Daumen kleben, von wo es sich löste, zu Boden fiel und ein bisschen im Kreis rollte. Schwül und klebrig kommt mir auch das Geständnis des Mannes vor. So etwas würde ich nicht dem engsten Freund erzählen. Die Sache selbst tät mich sowieso rundum beschämen. Wie es schien, waren die beiden nicht mal eng befreundet, sondern hatten sich zufällig getroffen. Der Thailandfahrer konnte nicht wissen, wie seine Aussage auf sein Gegenüber wirken würde. Das schien ihm aber nichts zu machen, sonst hätte er es nicht hinausposaunt. Vielleicht verkehrt er üblicherweise mit Männern, die es auch so machen, weshalb ihm die Sache als nichts Besonderes erschien.

Die Wörter in seinem Satz sind das Personalpronomen „ich“ (Subjekt des Satzes), das Verb „fahren“ (Prädikat), die Umstandsangaben der Zeit/des Ortes „einmal im Jahr“/„nach Thailand“, das Bezugssubstantiv „Land“, das Genitivattribut „der jungen Frauen“. An keinem Wort, an keinem dieser Satzteile ist etwas Anstößiges. Das Anstößige liegt nicht im Satz selbst, nicht in seiner grammatischen Struktur. Sprache muss erst mit Bedeutung aufgeladen werden. Der Sprecher verbindet mit seinem Satz offenbar lustvolle Erfahrungen. Mit welcher Bedeutung seine Äußerung vom Hörer gefüllt wird, hängt von vielen Umständen ab, von der Aufmerksamkeit, von der Akustik, vom Vorwissen und von der moralischen Haltung, von der Situation, vom sprachlichen Kontext, von der emotionalen Stimmung, von Gestik und Mimik oder deren Abwesenheit.

Ich habe diesen kurzen Abschnitt vorausgestellt, um einige Aussagen aus den Papieren des PentAgrion verständlich zu machen, zumindest aber so zu bebildern, dass du mir nichts nachsagen kannst, höchstens, „Danke, das wäre nicht nötig gewesen, ich kann selber denken.“


Menschensprache und die sekundären Medien
(aus den Papieren des PentAgrion)

Jedes Wort der Menschensprache ist seinem Wesen nach neutral. Deshalb ist die Menschensprache grundsätzlich ein perfektes Kommunikationsmedium. Eine jede Schriftsprache verfügt über Millionen Wörter. Ein Teil davon ist in Wörterbüchern verzeichnet und steht theoretisch jedem Sprecher zur Verfügung. Darüber hinaus kennt jedes Mitglied der Sprachgemeinschaft eine Fülle weiterer Wörter, die aus unterschiedlichen Gründen nicht lexikontauglich sind oder noch in Warteschleifen hängen. In der Praxis ist der Sprachschatz dem Sprecher aber nur in Teilen zugänglich. Wollte jemand etwa zwei Millionen Wörter seiner Sprache sprechen und nehmen wir für jedes Wort die Zeit von drei irdischen Sekunden, dann wäre er (3 * 2 000 000) / 60 = 100 000 Stunden damit beschäftigt, was
(((3 * 2 000 000) / 60) / 24) / 365 = 11.4155251 Erdjahren entspricht. In diesen 11 Jahren hätte er nicht kommuniziert, sondern nur Wörter geleiert. Im Regelfall geht der Umfang des Wortschatzes aber weit über zwei Millionen Wörter hinaus. Hinzu kommen Wörter aus den Dialekten, aus unzähligen Fachgebieten, aus Sonder- und Gruppensprachen, Augenblicksbildungen sowie private, idiomatische Ausdrücke. Diesen gewaltigen sprachlichen Ozean zu durchmessen, ist in einem Menschenleben praktisch unmöglich, auch wenn einer den Mund noch so voll nimmt.

Ein durchschnittlicher Sprecher beschränkt sich etwa auf 10.000 Wörter. Sie sind sein aktiver und passiver Wortschatz. Den letzteren benutzt er nicht, aber versteht die darin enthaltenen Wörter. Man sollte annehmen, dass der Mensch danach trachtet, seinen aktiven Wortschatz ständig zu erweitern, denn es brächte eine Verfeinerung der Denkgewohnheiten mit sich, würde mithin sein Denken und Handeln verändern, sein Urteilsvermögen schärfen, ihm ein tieferes Verständnis seiner Welt und seiner Mitmenschen bescheren und seine soziale Kompetenz erhöhen. Tatsächlich aber herrscht in allen Kulturen die Bestrebung, den Wortschatz einzuschränken. Bestimmte Wörter sind aus religiösen, moralischen oder politischen Gründen tabuisiert, bestimmte Wörter und Sätze nur besonderen Gelegenheiten, sozialen Situationen und sprachlichen Kontexten vorbehalten. Manche Wörter tauchen nicht in Fachliteratur auf, andere nicht in erzählenden Texten. Diese Gebrauchsweisen werden angestoßen von den Massenmedien und geraten meist ungefragt in die Alltagssprache. Nach der Herkunft der Sprachmoden wird selten gefragt, denn der Mensch lebt in einer Welt der Konventionen, kann sich kaum vorstellen, dass die Dinge anders betrachtet werden könnten, als er es üblicherweise tut, wie es alle tun.

Der Erweiterung des Wortschatzes steht eine Streitmacht von Verhinderern entgegen. Die geistige Trägheit hat viele Schutzheilige in Schulen, Hochschulen, in den Medien. All diese Sprachverhinderer setzten Normen, schlagen Pflöcke ein, wo nicht weiter gegangen und gedacht werden darf, weit vor den Grenzen des Denk- und Sagbaren. Diese geistige Unterdrückung geschieht nicht aus Bosheit, sie ist nicht das Werk einer weltweiten Verschwörung, sondern entspricht einem systeminhärenten Problem der menschlichen Sprache. Allen Sprachen ist zueigen, dass sie nur für die Kommunikation in kleinen Gruppen taugen, nur taugen, den unmittelbar überschaubaren Bereich zu bewältigen. In kleinen sozialen Gruppen sind die menschlichen Sprachen entstanden, und wie seine Sprache, so der Mensch. Er ist ein Gruppenwesen, versteht nur, was er in seinem unmittelbaren Bereich sehen, riechen, schmecken und hören kann. Seine Weltwahrnehmung formt sich danach, was er mit seinen Sinnen erfasst. Größere Zusammenhänge kann er demnach nicht gut begreifen, will sie auch nicht begreifen, weil sie ihn bei der Bewältigung seiner täglichen Pflichten stören.

Das Gruppenwesen Mensch aber findet sich in einem Staatswesen vor, von dem er nur über Fremdzeugnisse erfährt, also mittelbar über die Fernkommunikation durch die diversen sekundären Medien. Was er davon begreift, ist von Zufällen bestimmt und wird in der Regel nicht kontrolliert durch den Abgleich mit den Fakten. Denn viele der Informationen aus den Massenmedien werden erzeugt in sozialen Zirkeln, zu denen nur Medienvertretern eingeschränkten Zugang haben. Der mediale Einfluss auf den Einzelnen ist enorm. Die irdischen Massenmedien sind gigantische Manipulationsmaschinen, deren Macht täglich wächst. Sie sind die Denkfabriken, in denen der Inhalt der Köpfe erzeugt wird. Sie begründen die Ohnmacht des Menschen, denn wichtig und wirklich, das ist in seinen Augen nur, was den medialen Segen der Denkfabriken erfahren hat. Selten ist es sein eigenes Leben, wo er doch so gerne teil hätte und aufgenommen würde in die Sozialgemeinschaft des globalen, für ihn viel zu großen Dorfes. Seine Tiernatur treibt ihn dahin, wo die Musik spielt. Aber die Musik lockt ihn weg vom eigenen Herd, wo seine Aufmerksamkeit gefordert ist. Aus diesem Dilemma ist dem Menschen nicht zu helfen.

„Aber ja doch!“, hatte Coster bestimmt gesagt, in der Nacht, als wir trinkend in seiner Küche saßen, „natürlich ist dem Menschen zu helfen. Er muss vor allem in alten Büchern lesen. Und das ist durchaus nicht nur literarisch gemeint. Wir müssen auch in den Büchern der eigenen Vergangenheit lesen. Die Erinnerungen sind nicht nur Teil des eigenen gedanklichen Netzwerks; alles, was danach kommt, baut auf ihnen auf und wird beständig von ihnen modifiziert. So wirkt die Vergangenheit zu jeder Zeit auf die Wirklichkeitswahrnehmung ein. Wer freilich nur durch seine übermächtige Gegenwart taumelt und sich von ihr niederdrücken lässt, ohne seine Vergangenheit als Ursache und Wirkung zu betrachten, dem allein ist nicht zu helfen.“

Am Morgen dieser heißen Sommernacht, als er mir ein wenig verkatert schien, wollte er von all dem nichts mehr wissen. Was Costers eigene Themen betraf, so erinnerte ich mich zwar, aber nur ungenau. Vor allem die Fakten waren mir entfallen. Es ist eine meiner Plagen, dass ich mir keine Zahlen merken kann, wie ich überhaupt vieles ziemlich rasch soweit vergesse, dass ich nur noch weiß, dass ich es mal gewusst habe und wo es wieder aufzufrischen wäre. Deshalb brauche ich so viele externe Erinnerungsspeicher. Das zumindest habe ich als meinen Kardinalfehler erkannt und mich darauf eingestellt, mir erst einmal grundsätzlich nicht zu trauen, wenn es um die Einzelheiten einer Sache geht. Und das gleicht die Schwäche aus und bereitet mir eine ruhige Selbstgewissheit. Es ist nicht gut, eine Sache nur halb zu wissen und an ihr Entscheidungen fest zu machen. An welcher Seite setzen denn die Bäume Moos an, an der westlichen Wetterseite oder im geschützten Osten? Da ich das immer wieder vergesse, werde ich mich nie nach dem Moos richten.

Folge 2.7: Große ist kleine Welt
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Kurzer Plausch mit Frau Nettesheim

trithemius & Frau Nettesheim

Frau Nettesheim
Armer Trithemius, Sie lassen den Kopf hängen.

Trithemius
Das darf ich, Frau Nettesheim. Grad bin ich dabei, mein Verhältnis zur Welt neu zu ordnen, und das ist anstrengend.

Frau Nettesheim
Kann ich mir kaum vorstellen.

Trithemius
Klar, wer es täglich tut wie Sie, Frau Nettesheim, beachtet es kaum.
Aber ich habe nun mal ein gewisses Beharrungsvermögen, und das zu überwinden ist eben anstrengend.

Frau Nettesheim
Wollen Sie damit sagen, dass ich flatterhaft bin?

Trithemius
Nie und nimmer, Sie flattern höchstens ein bisschen. Das hat vermutlich was mit Pataphysik zu tun, aber ich weiß natürlich nichts Genaues über Ihre spezielle Art, durchs Leben zu treiben.

Frau Nettesheim
Was reden Sie denn daher, Trithemius?

Trithemius
Ich meine nur, dass Sie sich innerlich selten festlegen, sondern kluge Distanz wahren zu den Menschen und Dingen in Ihrer Umgebung. Das würde ich mir gerne von Ihnen abgucken, wenn’s nicht so eine schwierige Übung wäre.

Frau Nettesheim
Sie wissen genau, wie das geht.

Trithemius
Ja, Frau Nettesheim, aber ich mache das etwas anders als Sie und bitte um die Erlaubnis, den Kopf noch ein bisschen hängen zu lassen.

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Papiere des PentAgrion - 2.5 Planet der Postboten

Papiere des PentAgrion bd 2
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TT-Musik von: The Bear That Wasn't - Your Huckleberry Friend

Folge 2.1 Die Macht der Jacke - Folge 2.2 Von den Socken - Folge 2.3 Realer Ruch des Blutes - Folge 2.4 Der Autor ist verwirrt

Der Leibniztempel auf einer Halbinsel im Georgengarten der Stadt Hannover war lange Zeit verwaist. Jetzt ist Leibniz zurückgekehrt. Seine Büste steht zentral im Säulenrund auf einem Sockel und auf einer Tafel steht zu lesen, dass es Gottfried Wilhelm Leibniz ist, den man hier aufgestellt hat. Der große Philosoph und letzte Universalist hält den Kopf leicht schräg nach unten geneigt, als wollte er den Hügel hinab auf den Teich und durch den Park zum Horizont schauen. Der den Leibniz gemeißelt hat, wusste entweder nichts Genaues über die Raumverhältnisse im Leibniztempel oder er hat sich nicht drum gekümmert. Jedenfalls schaut Leibniz keinesfalls den Hügel hinab auf den Teich und durch den Park zum Horizont. Das musste ich für Leibniz machen, er selbst hat überhaupt keinen weiten Horizont, sondern schaut milde lächelnd genau auf eine dicke Säule, vor seiner Nase quasi. Ich saß in der Blickachse von Leibniz auf den Treppenstufen, und theoretisch schaute mir Leibniz in den Nacken. Und anders als er, konnte ich sogar den Kopf drehen und mich umschauen.

Durch den offenen Leibniztempel weht ein Lüftchen, der leichte Sommerwind kräuselt freundlich die Wasserfläche des Teiches. Sacht wehen die langen Triebe der Trauerweide übers Wasser, ringsum das träge Rauschen im Blattwerk der stattlichen Bäume, da gelingt es mir eine Weile, mich zu besinnen. Denn es ist so, meine Gedanken wollen derzeit immer abschweifen und um eine Stelle kreisen, vielmehr um drei, vier fünf solcher Stellen, zwischen denen sie hin- und herhüpfen. An manchen Stellen ist’s schön wie im Leibniztempel, nur genau dort verweilen die Gedanken am kürzesten, hüpfen rasch wieder zurück dahin, wo es weh und weher tut. Ja, und wenn es mir dann gelingt, diesen Spuk in meinem Kopf zu beruhigen, weil sich die Natur ringsum doch solche Mühe mit mir gibt, dann ist es plötzlich der Tempel selbst, der mich Schmerzen lehrt. Schließlich ist sie mir hier einmal begegnet oder erschienen.

Links im Hang der Halbinsel, nah beim Teichufer und hübsch im Schatten liegt ein junger Mann. Jetzt richtet er sich auf und spielt versonnen auf seiner Gitarre, klimpert leise für sich Harmonien. Sie werden ihm aber bald verbellt, mal solo, mal im kakophonischen Gekläffe. Wie zum Teufel ist es bloß zugegangen, dass der Mensch sich ausgerechnet den Hund zum besten Freund gemacht hat, der doch so unschöne Rufe hervorbringt. Wenn es darum ginge, blöde Tierlaute hören zu wollen, könnten die Hundebesitzer doch ebenso Schafe und Ziegen durch den Park führen. Oder Esel in allen Größen. Ob es um Seelenverwandtschaft geht? Ob das Hündische genau zur Menschennatur passt? Das weiß ich nicht, will aber auch gar nicht darüber nachdenken. Allenfalls, dass es wohl die Tiernatur ist, die Mensch und Hund vergesellschaftet. Da ähneln und ergänzen sie sich.

Im Menschen ist die Tiernatur das Subjektive. Ich habe lange nicht recht verstanden, warum es dem Menschen nicht gelingt, seine Tiernatur ordentlich zu bändigen. In den Papieren des PentAgrion hat gestanden:


„Wer den Menschen ein wenig studiert hat, kann seine subjektiven Verhaltensweisen voraussagen. Dieses Subjektive im Menschen ist das Universale in ihm, das ihn mit allen anderen Lebewesen verbindet. Der Mensch selbst hingegen erlebt die kollektive Tiernatur als sein Eigenes, das ihn von anderen unterscheidet.

Die Sozialbeziehungen des heutigen Menschen drängen ihn in die Vereinzelung. Individualität wird als hochwertig empfunden und speist überaus schädliche Verhaltensweisen. In diesem Dilemma befindet sich der Mensch. Seine egoistischen Verhaltensweisen wurzeln in seiner Natur. Die schädlichen Verhaltensweisen des Menschen sind sein schwarz eingefärbtes Kollektivbewusstsein.“

Vor ein paar Tagen habe ich in meinem Bücherschrank ein Buch wiederentdeckt. Grundlagen der tibetanischen Mystik von Lama Anagarika Govinda. Hin und wieder lese ich darin. Auch eben habe ich darin geblättert. Es hat mir geholfen, die Papiere des PentAgrion besser zu verstehen. Aber man muss kein Buddhist sein, um zu wissen, dass die Vereinzelung des Menschen zu seinem Scheitern führt. Alles Negative und alles Positive in der Welt des Menschen wurzelt in der gemeinsamen Tiernatur. Die Vereinzelung bringt beständig schwarze Netzwerke hervor, die verständige Vergesellschaftung schafft unzählige weiße Netzwerke. Schwarze Posthalter, weiße Postboten.

Der Junge liegt wieder rücklings im Gras, die Gittare neben sich. Ich bin froh, dass er eben gespielt hat. Da habe ich ein Weilchen anderes denken können, unabhängig von einer Postbotin namens Gina Enport, die meinen Träumen entsprungen ist.

Folge 2.6: Forschungsreise durch den Kopf und andere Netze
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