Explosiver Mist geht hoch, just in der Halbzeitpause

zirkus schlechten GeschmacksIch hab die Tür verriegelt. Gestern Abend, denken Sie nur, bei den Tagesthemen in der Halbzeitpause des Fußball-Länderspiels Schweden-Deutschland hält Moderator Tom Buhrow sein Ministrantengesicht in die Kamera und sagt mit großer Miene: „Lange fühlte sich die Terrorangst in Deutschland ja irgendwie diffus an, eher wie ein beklemmendes Unbehagen. Aber heute sprach Bundesinnenminister de Maizière die dramatischste Warnung seiner Amtszeit aus. Auch wenn er sich bemühte, sie sachlich vorzutragen. Noch in diesem Monat könnten islamische Terroristen versuchen, in Deutschland einen Anschlag zu verüben. Die Hinweise waren noch nie so konkret.“

Na, das kommt ja wie ein bestelltes Päckchen, passend zur Konferenz der Innenminster. Da haben sie sich wieder was von Obama abgeguckt und gedacht, „yes, we can auch!“ Schon quakt der innenpolitische Sprecher der Unionsfraktion, Hans-Peter Uhl:
„Wer sich jetzt noch gegen die Vorratsdatenspeicherung wehrt, hat die Bedrohungslage nicht verstanden.“
„Die Polizei der Länder soll Telefonate und E-Mails vorbeugend überwachen dürfen, forderte auch CDU-Politiker Schünemann. Auch Online-Durchsuchungen von Computern sollten erlaubt werden.“
(Tageschau.de)

Ach, sie halten uns für so dumm. Sie denken, wir sind kleine Mädchen, die eins und eins nicht zusammenzählen können, denen man was vom Buhmann erzählen kann. Sie geben sich kaum noch Mühe, ihr schändliches Tun zu verbergen, so sehr vertrauen sie auf ihre Praktiken der Desinformation. Regierung, Staats-Fernsehen und Schmockpresse vereint. Und schon zeigt uns die Tagesschau Bilder von Polizisten in schusssicherer Weste und mit der Maschinenpistole vorm Bauch, an die wir Bürger uns „gewöhnen sollen“ (de Maizière) wenn sie an den so genannten weichen Zielen, an Bahnhöfen, Flughäfen und auf Weihnachtsmärkten patrouillieren.

Bitte vorsichtig über die Straße gehen, denn im Straßenverkehr werden jährlich um die 4000 Menschen tot gemacht. Die Polizei ist machtlos, denn sie muss ja auf de Maizières „dramatischste Warnung seiner Amtszeit“ reagieren (er ist grad mal ein Jahr im Amt) und nach Terroristen Ausschau halten, die eventuell gegebenenfalls vielleicht versuchen könnten, in Deutschland Anschläge zu verüben. Es gibt Hinweise aus zuverlässiger Quelle. Sie kommen direkt aus dem Innenministerium.

Verlogenes Pack! Sollten „islamistische Terroristen“ tatsächlich in Deutschland einen Anschlag verüben, dann sind es eure Terroristen, weil ihr Krieg führt in Afghanistan, was die deutsche Bevölkerung mehrheitlich ablehnt, weil es Unrecht ist. Und wie ihr den Terror herbeiredet, das ist verantwortungslos, beinah verbrecherisch, denn das alles dient dazu, die Freiheitsrechte einzuschränken und unsere schöne Demokratie zu ruinieren.

Man kann es
schon spüren, dieses „beklemmende Unbehagen“. Es ist auch gar nicht mehr „diffus“. Es hat Gesicht und Stimme. Dass der Innenminister sein perfides Süppchen kocht, kann man ja noch ertragen. Das ist nicht anders zu erwarten. Aber dass Leute wie Tom Buhrow diesen Schmarrn ohne jede kritische Distanz verbreiten, ist unerträglich. Er kassiert sein Gehalt aus unseren GEZ-Gebühren und macht den Regierungspapagei. Die Terroristen kriechen nicht gerade aus einem Loch - sie sind längst unter uns. Sie sind gut dotiert, rasiert und abgepudert, tragen Krawatte und schmeißen verbale Stinkbomben - im Zirkus des schlechten Geschmacks.

Edit
(20.11.2010): Vorsicht, dieser Mann lässt Tüten sprengen!
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Abenbummel online - Geschichtsbuch im Container

Eigentlich wollte ich nur einkaufen und Glasbehälter in die Container werfen. Ich weiß nicht, was es ist, aber wenn ich leere Glasbehälter in Container sortiere, werde ich trübsinnig. Da dachte ich, das soll es nicht gewesen sein, geh ein bisschen weiter und suche mal Straßen auf, in denen du eigentlich nichts zu suchen hast. Es war noch früh, so gegen 17:30 Uhr, aber schon finster. Da bekam ich überall kostenloses Fenstertheater. Es schickt sich nicht, in fremde Wohnungen zu schauen, aber ich tat es, wo immer es ging. Manchen Leuten scheint es nichts auszumachen, dass man von der Straße in ihre Zimmer schauen kann. Es wäre noch zu verstehen, wenn einer eine besonders hübsche Wohnung hat. Aber gerade die mit den bescheidenen Wohnungen haben häufig keine Scheu und zeigen ihre beinah trostlose Lebenswelt, wie manche gerne ihr offenes Bein oder ihre Geschwüre vorzeigen. Und womit sie ihr Heim schmücken, dagegen ist ein offenes Bein gar nichts.

GeschichtsbuchDie vielen Einblicke in fremde Lebenswelten weckten in mir eine schier unbändige Gucklust. Irgendwann geriet ich in eine Straße, in der ich mir einmal eine Wohnung angeschaut hatte, bevor ich mich von Aachen nach Hannover verpflanzt habe, wo alles größer, aber auch kälter ist. Da war ein Gerüst vor einem Haus, und wie ich drunter durch ging, sah ich ein Ladenlokal mit einem Durcheinander an alten Büchern, Heften und dem Kram vergangener Zeiten. Die Tür stand auf, und ein bärtiger Mann sah zu, wie ein jüngerer bartloser Mann Regale heraus trug. Der bärtige Mann hatte es nämlich an den Bandscheiben, wie er mir sagte, nachdem ich ihn gefragt hatte, ob ich das Durcheinander ablichten dürfte. Leider hatte ich nur mein Handy bei mir. Der Bärtige ließ mich bereitwillig ein, und ich knippste, was von seinem Antiquariat übrig war.

Er sagte, der Hausbesitzer hätte ihm gekündigt, und jetzt müsse alles raus. Sein Laden wäre keine große Sache gewesen, ein Treffpunkt für Freunde und Stammkunden, worin man gesessen und gequatscht habe. Ich sagte, das ist ein Kulturverlust. Leute wie der Bärtige tragen mehr zur Kultur bei, als man auf Anhieb denken könnte. Sie bieten nicht nur einen Ort der zwischenmenschlichen Kommunikation, sondern wahren durch ihre Sammlung alter Gegenstände, Bücher, Plakate und Zeitschriften unsere kollektive Erinnerung und zeigen, dass wir eine Vergangenheit haben, in denen all die Dinge der Sammlung einmal Gegenwart waren. Unsere Gegenwart ist nur zu verstehen, wenn wir wissen, wie wir dahin gekommen sind, was vorher war und unser Denken und Fühlen bestimmt hat. So ein Laden ist ein Geschichtsbuch, in dem sich zu lesen lohnt. Wenn ein solches Geschichtsbuch zugeklappt wird, verlieren wir ein Stück unserer Identität.

Später ging ich in den Supermarkt und konnte das Übermaß an optischen Reizen kaum verarbeiten. Überall diese schreienden Schilder, die mir eine Senkung der Preise verkündeten. Und all die Produkte, die ich nicht brauche. Da war auch ein lebensgroßer Aufsteller eines Mannes in weinroter Schürze. Darauf stand; „Kolja Kleeberg kocht mit Ihnen!“ Nicht mit mir. Ich kenne den nicht. Und ich kann auch nicht glauben, dass eine Pappfigur kochen kann. Wie soll das gehen? Hat der Karton-Kleeberg hinten ein System von Schnüren und zwischen den Beinen einen Zipfel, an dem man ziehen muss, und dann hebt er den Arm mit einer Maggiflasche in der Hand?

Wir wissen alle, man darf solche Werbepappkameraden nicht ernst nehmen. Der richtige Kolja Kleeberg wird mit keinem der Leute kochen, die in den Läden der Supermarktkette einkaufen. Warum funktioniert diese Form der Werbung trotzdem? Vor Jahren, als ich noch ein Kindergartenkind war, spielten wir einmal im großen Sandkasten. Die Erzieherin hatte uns angeregt, ein Auto aus Sand zu bauen, ein Kabrio. Wir schaufelten und modellierten eifrig die Form; ich sehe mich noch heute sorgsam die Sandsitze plattklopfen. Die Erzieherin hatte nämlich gesagt, wenn das Auto fertig wäre, würden wir damit nach Bonn fahren. Warum sie nach Bonn wollte, weiß ich nicht, ich zweifelte auch daran, dass unser Sandauto sich bewegen würde, aber insgeheim wollte ich ihr glauben. Schließlich hatte sie es gesagt, und sie war eine Autoritätsperson. Ich verehrte sie, sie war mein Star, bevor ich das Wort überhaupt kannte.

Was da in mir an die Fahrt mit einem Sandauto glaubte, das magische Denken des Kindes, verliert sich in den Jahren nach der Kindergartenzeit. Aber Reste davon stecken noch in jedem von uns. Und an dieses verborgene magische Denken appelliert die Werbung. Die Autoritäten sind die Aufschrift und das Abbild. Ihre Botschaft lässt uns auf Werbung reagieren. Aber wenn die Jahre darüber gegangen sind, wenn die Abbilder veraltet sind und die Moden sich geändert haben, erkennen wir das Falsche der großartigen Versprechungen, erkennen die Absurdität dessen, was wir einmal als normal empfunden haben.


In zehn Jahren werden wir den Kolja-Kleeberg-Aufsteller lächerlich finden, aber er war einmal Teil unserer Normalität und hat unser Denken geprägt. Gut, wenn es Leute gibt, die solche Artefakte vor dem Container bewahren, nachdem sie aus der Denkmode gekommen sind.

Guten Abend
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Ein Bummel wider die Domestizierung des Denkens

trithemius & Frau Nettesheim

Trithemius
Gestern beim Abendbummel …

Frau Nettesheim
Ach, ich dachte schon, Sie hätten diese nützliche Angewohnheit abgelegt.

Trithemius
Und schon unterbrechen Sie mich wieder, Frau Nettesheim. Also, noch mal von vorne. Gestern, im Laufe eines Abendbummels, es war schon dunkel, da hat es mich in eine hübsche Kneipe verschlagen, wo ich mich an die Theke setzte.

Frau Nettesheim
Demnach bummelten Sie im Sitzen.

Trithemius
Immerhin musste ich gehen, um zu sitzen. Während der Sitzphase meines Bummels bekam ich Lust zu schreiben, erbat mir von der Bedienung ein Blöckchen und schrieb irgendwas, und davon ziemlich viel. Plötzlich ging die Tür auf und drei attraktive Frauen traten ein. Vielmehr hatten zwei Blondinen eine kleine Brünette in ihrer Mitte und halfen ihr in Wort und Tat durch die Tür, so dass ich dachte, die Brünette wäre blind. Sie hatte aber nur die Augen geschlossen gehalten, wie ich später erkannte, als die drei sich seitlich von mir an die Theke gesetzt hatten.

Frau Nettesheim
Blindekuh?

Trithemius
Es ist nicht besonders freundlich, wenn Sie eine Geschlechtsgenossin blinde Kuh nennen. Das wirkt auf mich, um im Tierbereich zu bleiben, irgendwie stutenbissig.

Frau Nettesheim
Quatsch. Es trifft doch den Sachverhalt.

Trithemius
Nur ungefähr. Als eine Vierte hinzukam, rügte die größere Blondine, sie habe nun verpasst, wie sie Tanja mit geschlossenen Augen durch Linden geführt hätten. Tanja war demnach in einer befremdlichen Situation. Sie hatte zwar die Innenansicht der Kneipe, wusste aber nicht, wie’s draußen aussieht. Das gibt dem Spiel einen unerwarteten Sinn, der über Blindekuh hinausgeht. Es war eine Aktion wider die Domestizierung des Geistes.

Frau Nettesheim
Ach.

Trithemius
Ja, Frau Lakonisch. Es gibt ja vieles, was den Geist domestiziert, dass er zum willfährigen Haustier degeneriert wie eine Kuh, die sich allabendlich zum Melken anstellt, oder ein Pferd, das stoisch einen Karren zieht.

Frau Nettesheim
Fernsehen, Zeitungen, Moden, alles, was vorgedacht wird, so dass man es nur noch nachvollziehen muss.

Trithemius
Sie sagen es. Auch die Moden der Vornamen domestizieren, dass Frauen Ende dreißig, Anfang vierzig meist Tanja, Katja oder Daniela heißen und nicht etwa Helene wie Sie, Frau Nettesheim, ein Name, der quasi aus der Zeit ist.

Frau Nettesheim
Sehen Sie sich vor, Trithemius.

Trithemius
Die Moden des Denkens sind jedenfalls geistige Schranken. Irgendwo im riesigen Urwald des Kopfes wird ein Park angelegt, und je mehr sich ein Mensch an den jeweiligen Denkmoden orientiert, desto stärker gleicht der geläufige Park seines Geistes den Parks in den Köpfen der anderen. Da hilft es, sich einmal befremdlichen Erfahrungen auszusetzen, den Park durch ein verwunschenes Gartentörchen zu verlassen, und so hat Ihre blinde Kuh an diesem Abend mehr gesehen als alle, die mit offenen Augen das gesehen haben, was sie kennen und auf ihrer inneren Landkarte verorten können.

Frau Nettesheim
Sie haben das hoffentlich nicht nachgemacht und sind mit geschlossenen Augen nach Hause gegangen.

Trithemius
Nein, aber in der Kneipe hingen zwei Krokodile an der Decke und zwar so, dass es aussah, als würden sie die da lang kriechen. Weil aber der Nachthimmel zu weit weg war, um als Decke durchgehen zu können, dachte ich mir die Straße als Decke, und ich würde kopfüber gehen, quasi wie die Gegenfüßler down under. Da hatte ich Mühe, nach Hause zu kommen, einerseits, weil ich nach Krokodilen Ausschau halten musste, anderseits, weil ich fürchtete, die Bodenhaftung zu verlieren und ins weite Weltall zu treiben.

Frau Nettesheim
Sie hatten wohl ein Pils zuviel getrunken.

Trithemius

Schon domestiziert sie wieder mein Denken.

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Huhu, Karl-Theodor und sonst was zu Guttenberg!

zirkus schlechten GeschmacksWarum deutsche Soldaten den einen oder anderen Afghanen erschießen und manche dabei selbst zu Tode kommen, haben Sie jetzt in bester Köhler-Manier bekannt. Die wirtschaftlichen Interessen Deutschlands müssten auch militärisch abgesichert werden, zitiert Sie der Focus. Genauer: „Der Zusammenhang von regionaler Sicherheit und deutschen Wirtschaftsinteressen müsse offen und ohne Verklemmung angesprochen werden, forderte der CSU-Minister (...) bei der Berliner Sicherheitskonferenz.“ Da merkt man gleich, dass die Guttenbergs mal Raubritter waren und der sagenhafte Reichtum Ihrer Familie auf Wegelagerei und Geiselnahme zurückgeht.

Nach Ihrer Logik darf ich also auch meinen Nachbarn erschießen, wenn ich Interesse an seinem Auto habe, oder? Und denken Sie mal darüber nach, ob Sie das Familienvermögen freiwillig herausgeben, oder ob wir zur Wahrung egoistischer Wirtschaftsinteressen mit schweren Feldhaubitzen anrücken sollen.

Mehr:
Zirkus des schlechten Geschmacks
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Ich will nicht, ich will noch ein bisschen tanzen (2) - Ethnologische Forschungsreise in zwei Etappen

Teil 1

Im Andenkenladen hängen schwarze T-Shirts in Kindergrößen mit der Aufschrift: „Meine Hand ist klein, aber ich kann Oma und Opa um den Finger wickeln.“ Gekauft werden sie offenbar von den Opfern, ungeachtet der Gefahr, jede vernünftige Erziehung zu torpedieren. Entsprechend die zweite Aufschrift: „Wenn Mama nervt, rufe ich Oma an.“ Wenn Kindergärtnerinnen und Lehrpersonal sich beklagen, man habe zunehmend mit kleinen selbstbezüglichen Arschlöchern zu tun, hier bekommt man die Idee, woran es liegt. Aus kleinen Arschlöchern werden irgendwann mal große, und die singen dann: „Nein Mann, ich will noch nicht gehen, ich will noch ein bisschen tanzen.“ Von dieser Techno-House-Single der Formation Laserkraft 3D hatte auch die vorlesende Steuerberaterin aus Teil 1 geschwärmt. Offenbar trifft der Titel den Zeitgeist. „Nein, Mann!“ wurde für Deutschlands größten Radio-Award, die 1LIVE Krone, in der Kategorie beste Single 2010 nominiert. Der Songtext ist ein Musterbeispiel an Egozentrik, gesungen mit der Stimme eines Jünglings, der alles will, nur nicht erwachsen werden. Früher wollte er nicht von der Rutsche runter, jetzt will er nicht mehr von der Tanze.

Außerhalb der Schulferien sind die gut situierten Mitverursacher dieser Pest fast unter sich. Manche haben hier auch ihren Altersruhesitz. Abends besuchen sie die Kneipe „Aale Peter“ und hören das falsche und hohle Gesülze, das sich deutscher Schlager schimpft. Die Kneipe duckt sich unter einen Klotz im Stil des Brutalismus, hat aber über dem Eingang und über der Theke Dachschindel. Ich habe lange nicht so ein treffendes Beispiel für Kitsch gesehen. Die Dachschindel ist ihrer Funktion beraubt, weil sich über ihr zehn Etagen Beton auftürmen, ist nicht nur zum Schmuckelement verkommen, sondern beschwört eine potemkinsche Heimeligkeit. Bei unserem Eintritt ist Aale Peter noch nicht da. Uns empfängt sein jüngerer Stellvertreter mit der Begrüßungsfloskel, die er allen Paaren entgegenruft: „Hallo, und herzlich willkommen in Cuxhaven-Duhnen. Schön, dass ihr noch zusammen seid!“

Der Chef sei mit dem Ruderboot vor Helgoland, um die Aalreusen einzuholen. Derweil der noch 70 Kilometer über die finstere See zu rudern hat, erzählt der Adlatus dessen Witze. Aale Peter hat sie ihm genauestens eingeschärft. Sollte er einmal in schweres Wetter geraten und das Seemannslos erleiden, ist dafür gesorgt, dass diese kostbaren Worte nicht ebenfalls ins nasse Grab sinken. Also: „Um 20 Uhr gibt es Live-Musik! Heino wird singen. Seine Frau Hannelore ist schon seit Stunden auf’m Klo und schminkt sich!“ Und: „Hast du schon das von Jopi Heesters gehört? Er hat sich von seiner Frau getrennt und wohnt jetzt wieder bei seiner Mutter.“ Und: „Hannover, die Stadt liebe ich. Da ist meine Schwiegermutter überfahren worden.“ Sie ist auch in Köln und Düsseldorf unter die Räder gekommen, je nach Herkunft der Gäste. Den Einwand, das wäre selbst für eine Schwiegermutter zuviel, lässt er nicht gelten: „Hallo? Ich war vielleicht mehrmals verheiratet!“

Um 20 Uhr singt nicht Heino, sondern Aale Peter trifft ein und löst seinen Adlatus ab. Aale Peter ist ein kleiner gealterter Beau und sieht ein bisschen verlebt aus. Er hat den Hemdkragen hochgestellt. Vermutlich gab’s Sturm vor Helgoland. Aber nicht Wind und Wetter haben ihre Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Die stammen aus dem Puff, wo er 30 Jahre gearbeitet hat, wie er sagt. Das aber ist die einzige neue Information. Die tragische Geschichte von Jopi Heesters erzählt er mir zweimal, Heino wird wieder angekündigt, Hannelore blockiert noch immer das Damenklo mit ihrem Schminkkoffer, Aale Peters Schwiegermütter liegen überfahren in der ganzen Republik verstreut - wir spenden. Er versucht uns zum Bleiben zu überreden, weil meine bezaubernde Begleiterin in der Kneipe das Altersniveau um ein Beträchtliches senkt, aber wir haben für heute die Nasen voll. Nein, Mann, wir wollen gehen, bevor es zu spät ist. In diesen Zeiten müssen auch Alltags-Ethnologen gut auf ihre geistige Gesundheit achten.

Mehr: Ethnologie des Alltags
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Ich will nicht, ich will noch ein bisschen tanzen (1) - Ethnologische Forschungsreise in zwei Etappen

Im Zug unterhielten sich zwei Frauen über die Grundschule ihrer Kinder. Da sagte die eine, eine vintage gestylte, verblühende Schönheit: „Nächste Woche werde ich den Kindern vorlesen. Der Bürgermeister liest, der Pfarrer liest, da muss die Steuerberaterin auch lesen.“

Da wollte ich mich setzen, aber ich saß schon und sank wie Blei in die Polster. Wenn sich jetzt schon die Steuervermeidungsberaterin zu den Säulenheiligen eines Dorfes zählt, kann man den vakanten Platz auch dem Immobilienmakler nicht verweigern, nicht dem Finanzberater oder der Betreiberin eines Swingerclubs. Einziges Kriterium: Sie müssen erfolgreich sein, um als achtbare Stützen der Gesellschaft zu gelten. Ach, wie schwerdoof ist diese Welt, und wenn ich Christopherus persönlich wäre, die wollt ich nicht mehr schultern. Ich würde ein großes Schlammloch suchen und sie reinplumpsen lassen.

Das war am Freitag auf der Fahrt zu einem Kurzurlaub in Cuxhaven. Samstagabend wusste ich, das ist längst passiert. Die Welt ist in den Abtritt gefallen, und rundherum schwappen die Fäkalien. Da sah ich versehentlich eine Ausgabe des ZDF-Boulevardmagazins „Leute heute“. Die Scheiße ist wohl prächtig abgefilmt, in geschmackvoll abgestimmte Farben getaucht, wie überhaupt die technische Brillanz der TV-Produktionen im umgekehrten Verhältnis steht zu ihrem Inhalt. Je schöner, desto schlimmer. Schön ist auch die Moderatorin, eine Ex-BWL-Studentin namens Karen Webb, ebenso zuständig für die ZDF-Berichte über Adelshäuser. Sie hat ein Buch geschrieben mit dem Titel: „Charmant in jeder Lebenslage - was wir von Prominenten lernen können und was besser nicht“. Laut Wikipedia heißt ihr Sohn Matteo St. Clair. Der charmant doofe Vorname "Matthias Heilige Klara" verdient dreimal das Prädikat „besser nicht“, passt aber pfeilgrad in eine egozentrische Irrsinnswelt, in der selbstverliebte Steuervermeidungsberaterinnen Vorlesestunden abhalten. Wer wäre besser geeignet, Matteo St. Clair auf ein Leben vorzubereiten, in dem das Gaunerpack aus den Adelshäusern, Damen- und Herrenschneider, Köche, armselige Promis, ihre Fitnesstrainer und Friseure stilbildend sind.

Mir ist beim Anschauen der Sendung klar geworden, dass meine zeitweilige Medienabstinenz zwar eine probate Form der Psychohygiene ist, dass sie mich aber über den erbärmlichen Zustand dieser Welt hinwegtäuscht und dass alles viel schlimmer ist, als ich mir ausmalen kann. Vor allem dauern mich die vielen Leute, die sich tagtäglich mit all dem geschönten Dreck voll schmieren lassen und ihn für normal halten. Man muss schon eine Sorte Übermensch sein, um da nicht dauerhaft Schaden zu nehmen.

Da das Prädikat „schön“ in diesem Text übel beleumundet ist, sage ich, es war ein feiner Kurzurlaub, dank meiner Begleiterin und einiger Naturerfahrungen, die man in der Stadt nicht machen kann, einen Sternenhimmel zu sehen ohne Lichtverschmutzung, sich vom Seewind durchpusten zu lassen, nächtliche Stille und dergleichen. Unter solch günstigen Voraussetzungen wagten wir uns am Freitagabend in ein surreales Abenteuer. Wir betraten die Kneipe „Aale Peter“.

Fortsetzung: Teil 2

Mehr: Ethnologie des Alltags
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Gut beraten von Ackermann und der Deutschen Bank

Gut-beraten-von-Ackermann
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Ein Jahr schwarz-gelb - Stefanie Hauer und ich bilanzieren, und ich bekomme einen 5er BMW

Frau Stefanie Hauer, Verlagsleiterin der Wochenzeitung DIE ZEIT hat mir heute eine E-Mail geschickt. Die schwarz-gelbe Koalition wäre nun ein Jahr im Amt. Und darum wolle Frau Hauer eine Zwischenbilanz mit mir ziehen. Wenn ich mir zwei Minuten Zeit nehmen würde, um die bisherige Arbeit der Regierung zu bewerten, bekäme ich einen neuen 5er BMW Touring oder einen 5000 Euro dicken Möbelgutschein. Außerdem die praktische Sporttasche »Active« oder die limitierte ZEIT-Uhr.

Zeit-Umfrage

Legen Sie los, Frau Hauer, bilanzieren wir!

Frage 1
„Seit die neue Bundesregierung im Amt ist, hat sich die Konjunktur in Deutschland deutlich erholt. Was denken Sie: Welchen Anteil hat die Regierung daran?
– Einen wesentlichen Anteil.
– Einen mittelgroßen Anteil.
– Einen geringen Anteil.
Die Fragestellung zu viel zu eng, Frau Hauer. Wenn ich für zwei Minuten Bilanzieren mit Ihnen einen 5-er-BMW bekomme, dann muss die Konjunktur brummen wie Sau. Das gibt eine 1 Doppelplus für schwarz-gelb, denn so etwas hat es in der Geschichte der Bundesrepublik noch nicht gegeben. Brüderle wird ja quasi von der Konjunkturkurbel rumgeschleudert. Und es regnet 5er BMWs, Möbel, Sporttaschen und Uhren. „Einen alles überragenden Anteil.“ - würde ich da gerne ankreuzen.

Frage 2
Die Bundesregierung hält an einem Engagement in Afghanistan fest.
Sind Sie damit einverstanden?
- Ja.
- Nein.
- Ich bin unentschieden.
Ja! Ja! Ein festes Engagement ist immer erfreulich, das wird Ihnen jede Clownstruppe bestätigen. Endlich mal die Koffer auspacken und ein bisschen heimisch werden, sich mal in Ruhe die Stadt angucken, herrlich. Ich bin froh, dass die Bundesregierung in Afghanistan so gut ankommt. Wahrscheinlich hat sie jeden Tag volle Säle, und die Eintrittskarten sind auf Jahre ausverkauft. Und wenn der schmucke Baron zum Guttenberg mit Kristina (Nenn mich deutsche Schlampe! Gib mir Tiernamen!) Schröder jongliert, dann kann ich mir denken, fällt der Afghane vor Begeisterung vom Glauben ab.

Frage 3
Wie beurteilen Sie den Einsatz der Bundesregierung
für die Stabilität des Euros?
- Gut, die Regierung hat sich erfolgreich für eine weiterhin
stabile Währung eingesetzt.
- Nicht gut genug, die Stabilität bleibt gefährdet.
- Kann ich nicht beurteilen.
Erfolgreicher und weiterhin stabiler Einsatz beim Kohleschaufeln von unten nach oben. Keinesfalls dürfen die Preise für die Eintrittskarten gesenkt werden, das schwächt den Euro am Hindukusch.

Frage 4
Wie bewerten Sie die bisherige Arbeit der Bundesregierung insgesamt?
- Gut.
- Durchschnittlich.
- Schlecht.
- Kann ich nicht beurteilen.
Toll, schon alleine wegen der feuerfesten Frisuren bei den diversen Auftritten in Afghanistan. Also Kreuzchen für Schwarz-Gelb, wie Sie es schon vorgemacht haben.

Frage 5
Die Redakteure der ZEIT haben unterschiedliche politische Ansichten.
Wie finden Sie das?
- Gut, denn ich möchte verschiedene Sichtweisen kennenlernen,
bevor ich mir selbst eine Meinung bilde.
- Nicht so gut, ich hätte lieber eine einheitliche
politische Ausrichtung der Redakteure.

Äh, Frau Hauer? Die Frage verstehe ich nicht. Wir bilanzieren doch die Arbeit der Bundesregierung, oder? Gehören die Redakteure der ZEIT auch dazu? Dann ist klar, dass da welche schwarz und welche gelb sind. Aber unterm Strich ist's glücklich ein Verein.

Frage 6
Zum Schluss noch eine persönliche Frage:
Wie häufig lesen Sie momentan DIE ZEIT?

Jeden Tag dreimal, denn man muss sich über die Verlautbarungen der Bundesregierung auf dem Laufenden halten.

zirkus schlechten GeschmacksUff, das hat jetzt ein bisschen länger gedauert als zwei Minuten. Ich hätte dann gern den BMW, die Tasche, die ZEIT-Uhr UND den Möbelgutschein. Persönliche Bemerkung: Wenn ich nicht von Ihnen gelernt hätte, Frau Hauer, dass DIE ZEIT ein Organ der Bundesregierung ist, würde ich sagen, so eine verschmockte Umfrage, zusammengeschustert aus Suggestivfragen, Euphemismen und wertenden Attributen, habe ich noch nie gesehen. Aber passt schon. Nur das Layout der ZEIT-Umfrage wirkt, ich muss es leider sagen, ein bisschen schmuddelig. Na ja, Sie können nichts dafür. Schwarz und Gelb gibt leider immer nur ein fieses Grau.
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