Kopfkino

Es wumst die bunte - Frühlingsgedichte

Wenn der Frühling kommt,
dann wumst die bunte,
Wenn der Frühling kommt,
dann prahlt die prie.

Wenn der Frühling kommt,
dann sprozz die knospe,
Wenn der Frühling kommt,
dann wallt die wie.

(...)
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Durch die nur unscharf berechenbare Randzone (5)

Genaue Ortsbeschreibungen galt es handschriftlich zu notieren, als Station eines Bummels durch die nur unscharf berechenbare Randzone des Teppichhausnetzwerkes. Wir sind unterwegs mit:

Karte05Trithemius

„Hannover ist putzmunter“, steht auf einem Plakat am Zaun, genauer, es steht auf einem gelben Putzhandschuh, den ein Mann dem Betrachter entgegenstreckt. Die offene Hand ist in Griechenland eine Schimpfgeste. Falls mal ein Grieche vorbeikommt, wird er wohl zusammenzucken, wenn er diese Sternstunde des Wortspiels sieht. Und dann hat er vielleicht gar keine Lust mehr zum putzmunter sein.

Wir befinden uns am Anfang der Billungstraße, wo sie von der Davenstedter Straße abzweigt. Die Billunger sind, wie jeder weiß, ein frühmittelalterliches sächsisches Adelsgeschlecht, das aber glücklich ausgestorben ist. Passender Weise ist die Billungstraße eine Sackgasse. Sie steigt leicht bergan und würde hinauf zum Lindener Berg führen, wenn man sie ließe und nicht nach etwa 75 Metern schon Schluss wäre. Oben ist ein kleiner Platz, von dem nach rechts ein Weg in eine Grünanlage mit Bolz- und Spielplatz führt. Nach links geht es in eine Straße, die Kiewergarten heißt. Hier stehen mächtige Hausreihen aus der Gründerzeit. Auch die Billungstraße hat ein Haus aus der Gründerzeit. Es ist ein vierstöckiger, hübsch gegliederter Klinkerbau an der Ecke zur Davenstedter Straße. Auf dem Balkon der 3. Etage unter einer Arkade stehen zwei junge Männer, rauchen und reden was. Die anderen Häuser auf der linken Seite sind grau verputzte Nachkriegsbauten, das ist Einheit von Form und Farbe.

Rechts hat die Billungstraße keine Wohnhäuser, sondern einen Wertstoffhof des Zweckverbands Abfallwirtschaft Region Hannover (aha). Von einer nahen Kirche her weht das 12-Uhr-Mittagsgeläut. „Do löck et Medaach, wer jekocht hät, der laach!“, sagt man im Rheinland. Ich habe nicht gekocht und somit auch nichts zu lachen, sondern muss schreiben, sitze genau vor der Einfahrt zum Recyclinghof mit dem Rücken zur Davenstedter Straße auf einem viereckigen Betonkübel mit festgebackenem Streugut. Hinter mir rollt der Verkehr übers Kopfsteinpflaster, und ab und zu fährt eine Straßenbahn der Linie 9 vorbei. In der frühlingshaften Luft sind auch Hammerschläge zu hören. Sie kommen unter einem quer zur Billungstraße geparkten Auto hervor. Es liegt offenbar ein Mann darunter, jedenfalls gucken zwei Beine heraus, was ich aber kaum sehen kann, weil die Betoneinfassung eines kleinen Baumes die Sicht versperrt.

Außerdem steht die Sonne genau im Süden am blassblauen Himmel und blendet mich ein bisschen. Vor mir biegt eine Prozession von Autos in die Einfahrt des Wertstoffhofes und steht dort mit aufleuchtenden Bremslichtern Schlange, denn auch die Einfahrt steigt an. Man kann sie nicht verfehlen, denn es ragt ein schmales Schild daneben auf mit der nach links gestürzten Aufschrift „Wertstoffhof“. Darüber befindet sich eine stilisierte Zeigefingerhand mit dem Satz „aha ist da!“ Montags aber nicht, wie ein Schild auf dem jetzt offenen Metallgatter sagt. Und sonntags ist dieses Gatter auch geschlossen. Nur einmal fand ich es offen, bei der letzten Bundestagswahl. Da war das für mich zuständige Wahllokal im kleinen Verwaltungsgebäude des Wertstoffhofes. Passend zum Lokal habe ich natürlich Schrott gewählt wie die meisten Deutschen. Es gab ja nichts Neues, und das ist der Nachteil beim Recycling. Jedenfalls sollte man keine alten Schuhe zum Wertstoffhof bringen. Wir brauchen sie noch zum Werfen.

Ende des Bummels
Zurück zum Anfang des Bummels
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Durch die nur unscharf berechenbare Randzone (4)

Genaue Ortsbeschreibungen galt es handschriftlich zu notieren, als Station eines Bummels durch die nur unscharf berechenbare Randzone des Teppichhausnetzwerkes. Wir sind unterwegs mit:

Karte04la-mamma

sehen sie, dabei hab ich heut verschlafen und nicht einmal südöstlich aber rund 100 schritte nördlich von meiner haustür hab ich zumindest geschaut, was mir das tageslicht zeigt.

ein hund steht neben mir, ein bernhardiner, in stark gekrümmter haltung. die kleine vollgeparkte straßé, durch die ich ins büro eile, ist von laubbäumen gesäumt, selbstverständlich weiß ich jetzt nicht einmal von welchen. das haus rechterhand ist blassgelb gestrichen, auf der linken seite ist ein langer dunkelgrauer zaun. der garten dahinter ist jetzt viel gepflegter, seit sich statt der quasi weltweit berüchtigten schlafstätte für obdachlose männer ein altersheim darin befindet. am gehsteig vor mir ein paar zigarettenstummel, die dank unserer stadtreinigung nicht lange liegen bleiben werden, und ein paar weiße kaugummiflecken, die für immer picken.

ps: ich bin rund 850 km südöstlich von hannover daheim. wobei ich aber in 10 minuten westlich zu fuß bis zum hannovermarkt komme. dorthin hat mich meine mama schon als kind fast jeden tag mitgenommen.

Wird fortgesetzt. Nächste und letzte Etappe: Trithemius
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Durch die nur unscharf berechenbare Randzone (3)

Genaue Ortsbeschreibungen galt es handschriftlich zu notieren, als Station eines Bummels durch die nur unscharf berechenbare Randzone des Teppichhausnetzwerkes. Wir sind unterwegs mit:

Karte03 Videbitis

293 km Hannover/Linden - Köln/Innenstadt + 100 m
Lindenstraße, ca. 100 Meter südwestlich von meiner Haustür entfernt. Auf der Ausfallstraße herrscht reger Verkehr. Direkt neben mir eine Bushaltestelle – ich hoffe, es kommt kein Bus, der Fahrer könnte denken, ich warte auf ihn, hält extra wegen mir, und aus lauter Schuldgefühl muß ich einsteigen und sonstwo hinfahren. Die Bebauung ist das typisch kölsche Gemisch aus häßlichen Nachkriegsbauten und Gründerzeithäusern, typisch jedenfalls für die sogenannte Neustadt.

In Sichtweite: 1 Kiosk, 1 Stehcafé, das nur vormittags geöffnet hat, eine Filiale der Pizza Company (ganz schlechte Pizza!), 1 vietnamesisches, 1 neues nepalesisch-tibetisches Restaurant namens „Buddha’s Eye“ – kenne ich beide nicht. Die Zweitwohnagentur sieht aus wie ein Versicherungsbüro, die Fenster sind bis zur Hälfte mit undurchsichtiger Folie beklebt.
Direkt stehe ich vor dem Gebäude des Berufskollegs, das zu Wahlzeiten mein Wahllokal beherbergt. Eine Wand ist mit einem riesigen Graffito verziert – eine Auftragsarbeit. Ich hatte einen der Künstler während der Arbeit befragt, er erzählte, daß sie nur das Material bezahlt bekämen, das Werk sei eine Art Eigenwerbung. Tatsächlich steht am Rand eine Telefonnummer und Internetadresse.

Das hier ist kein Ort, an dem man sich lange aufhält, außer, man wartet auf den Bus. Inzwischen sind schon drei an mir vorbeigefahren, gottseidank sind immer andere Leute ein- und ausgestiegen. Die mir zugewandten Fahrgäste betrachten mich während des kurzen Halts, aber nicht mit Absicht, sie schauen halt aus dem Fenster, und ich steh da herum und kritzel auf Papier. Die Blicke machen einen stumpfen Eindruck, kein Wunder, Freitag 16.30, die Last einer ganzen Arbeitswoche liegt auf ihnen, sie wollen nichts anderes als möglichst schnell nach Hause.

Fahrräder flitzen auf dem Fahrradweg. Die Leute, die vorbei gehen, kucken, aber interessieren sich nicht weiter für mich. Es wäre vermutlich nicht anders, wenn ich hier einen Schreibtisch hinstellte und an ihm einen Roman schreiben würde. Alles macht einen trostlosen Eindruck. Der einzige Lichtblick ist die Konditorei an der nächsten Kreuzung: Café Braun, ich komme! 1 Stück „Birne Helene“ bitte.

Wird fortgesetzt. Nächste Etappe: la-mamma
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Durch die nur unscharf berechenbare Randzone (1)

Genaue Ortsbeschreibungen galt es handschriftlich zu notieren, als Station eines Bummels durch die nur unscharf berechenbare Randzone des Teppichhausnetzwerkes. Unser Bummel beginnt mit:

MaranaKarte01

Von Hannover Richtung Nord-Nordwest 110 km Luftlinie und noch 100 Meter weiter. Um halb zehn am Freitag morgen stehe ich vor der Kreuzung Lindenstraße, Krummwinkel und Am weißen Sande, nachdem ich der Weisung des Herrn TT gefolgt und notizblockbewehrt hundert Meter Richtung Nord-Nordwest ausgeschritten bin.

Der Blick ist gefangen von der Rönnschen Mühle mit seinen breitbrüstigen Wirtschaftsanbauten. Die Mühlenflügel ragen in den blauen Himmel und signalisieren, dass die Mühle schon lange stillsteht. Es gibt einen wunderbaren Bericht über die heutige Nutzung des Geländes, auf den ich hiermit hinweisen möchte, und Herr TT als Meister der Sprache hat uns schon vieles über Sprache und Schrift offenbart, aber von der Mühlensprache meine ich bei ihm noch nichts gelesen zu haben.

Aber weiter: Die Straßenkreuzung ist eigentlich keine Kreuzung, auch keine Gabelung, aber was nun? Wie könnte man beschreibend schildern, was man mit einem Bleistift null Komma nichts aufgezeichnet hätte? Schräg verläuft die führende Straße, rechts neben der trockenen, braunblättrigen Buchenhecke des Mühlengeländes zweigt eine Straße ab, die verlangsamt wurde durch einen „liegenden Polizisten“. Stopp, halt, von meinem Standpunkt aus kann ich die geschilderte Bremsschwelle gar nicht sehen, das stammt aus meiner Erfahrung, im wahrsten Sinne des Wortes. Abwärts zur mir her führt die „schnelle“ Straße, die sich vor allem dadurch auszeichnet, dass nur ein Bürgersteig den Fußgängern zur Verfügung steht, obwohl beidseitig bebaut, und trotz der abgestellten Autos zur beschleunigten Fahrt hinab zur Bahnhofstraße reizt, sei es als zweirädriger Pedalritter oder als vierrädriger Benzinverprunzer.

Die Straßenbebauung ist nicht geschlossen, und das spitzwinklige Eck zwischen beiden Straßenzügen, das rechts von mir und schräg gegenüber dem Mühlengrundstück liegt, wird beherrscht von einer großen Linde, unter der mit Bank, kleiner Rasenfläche und Rahmung von gekugelten Buchsbäumen ein lauschiges Plätzchen geschaffen wurde, mittlerweile eigentlich mehr für sich lösende Hunde als für einen ruhenden Rentner oder eine –In.

Zwei Farbtupfer ziehen das schauende Auge an der Wegverzweigung auf sich. Auf dem unbefestigten, verkrauteten Straßensaum unterhalb des Lindenecks steht der gelbe Kasten mit Winterstreugut, der verschlossen wie ein Tresor das helfende Gut bewahrt. Aber auch hier, halt , stopp, ich habe nicht überprüft, ob man sich dort nicht doch noch wie in früheren Zeiten bedienen kann, also gebe ich hier nur eine vage Vermutung zum Besten, die sich mir nur schauend aufdrängte.

Der hellblaue Verteilerkasten an der mir gegenüberliegenden Kreuzungsecke neben der mühlengrundstücksbegrenzenden braunen Hecke wurde einstmals von Kinderhand bildlich gestaltet. Und was sehe ich noch? Bäume und Buschwerk, erstere ohne Blätter und noch ohne knospenden Grünhauch und letzteres mit winterhartem Blattwerk oder auch ohne.

Ich weiß nicht, wohin die Schilderung noch führen sollte oder könnte, und ich gestehe, dass ich den Fotoapparat zwecks visueller Demonstration mitgenommen hatte, und ich gestehe weiter, dass mein Notizblock leer blieb, da ich dieses Fleckchen Erde aus dem ff kenne, der Standort des Sehens musste allerdings ausgelotet werden heute morgen um halb zehn.

Mühlensprache

Wird halbstündlich fortgesetzt. - Nächste Etappe wvs
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Drielandenpunt - Nachtschwärmer online - Folge 5

Nachtschwärmer

Nachtschwärmer online - Folge 5: Drielandenpunt
Buch / Erzähler: Trithemius, Musik: Martin Kratochwil
Fortsetzung folgt
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Wegen einer Betriebsstörung fällt die heutige Nachtdraisine aus - Nachtschwärmer online 4.2

Sollte eigentlich ein Nachtschwärmer folgen. Aber mir ist nicht danach. Vielleicht geht es Sonntag weiter, aber für heute will ich mich begrenzen und meine Truppen versammeln. Um es in ein Bild zu fassen: Die Gleisstrecke nach Moresnet ist gerade schrecklich vereist. Bei Vereisung der Strecke fährt auch die Deutsche Bahn nicht. Ich könnte hier nur noch ein bisschen schriftliches Geplauder bieten, quasi als Entschädigung für die ausgefallene Fahrt mit der Draisine.



Verehrte Kundschaft,
wegen anhaltenden Schneefalls und zunehmender Vereisung war das Befahren der Strecke Aachen-West - Moresnet - Plombiers und so weiter vergangene Nacht nicht möglich, - wobei Plombieres keinen Bahnhof hat, sondern nur Erwähnung findet, weil sich oberhalb des Ortes eine stählerne Brücke befindet, die sich auf mächtige gemauerte Pfeiler stützt, die ihrerseits so unfassbar hoch sind, dass es ein unverantwortliches Risiko wäre, die Strecke mit Ihnen an der Seite zu befahren. Dort oben ist nicht nur die Vereisung der Strecke schrecklich, es bläst auch ein sibirischer Wind.

Aus diesem Grunde bieten wir Ihnen hier lediglich noch einige Minuten Wortgeplänkel, das, wenn Sie viel Phantasie haben, so ähnlich klingen mag wie das leise Rattern der Räder unserer allseits beliebten Nachtdraisine. Sie wissen schon, an den Nahtstellen macht es tocktock. Es ist fast das gleiche Geräusch wie das einer Tastatur. Allerdings geben wir zu bedenken, dass unser Tastaturbediener einen deutlich schnelleren Rhythmus hat. Falls Sie in diesem Text Tippfehler finden, dann denken Sie daran, es liegt am Winter. Vereisung der Tasten, nichts zu machen. Selbst im innerstädtischen Bereich, (wobei sie das Wort "innerstädtisch" nicht ganz ernst nehmen dürfen und das Wort "Bereich" eigentlich unnötig ist), also selbst innerhalb der Stadt ist die Strecke nicht sicher.

Wir haben die örtlichen Verhältnisse hochgerechnet, das heißt, wir haben uns nicht per Augenschein davon überzeugen können, wie es nun wirklich ist oben auf der zugigen Brücke hoch über dem Flüsschen Geule. Die Geule ist zugefroren, in jedem Fall, doch ein Rinnsal ist sie nicht. Nur, wenn Sie jetzt hoch oben auf der Draisine säßen und würden einen Blick hinab werfen ins Tal, was wiederum nur ginge, wenn Sie absolut schwindelfrei sind; bei einem solch gewagten Blick hinab ins Tal hätten Sie den fälschlichen Eindruck, dass die Geule ein kleines eisiges Rinnsal ist. Sie hätten jedoch wahrscheinlich kaum den Mut, sich über den Rand der Draisine zu lehnen; es sei denn, man hielte Ihre Hand. Nicht allein wegen der ungewöhnlichen Höhe der Brücke, sondern auch wegen der eisigen Böen aus östlichen Richtungen, die Sie hinabzufegen drohen. Schade, es hätte dramatisch oder immerhin romantisch werden können, wenn die Bahnverwaltung die Fahrt nicht untersagt hätte.


P.S.: Inzwischen hat uns die belgisch hoheitliche Bahnverwaltung für die Provinz Lüttich mitgeteilt, dass man in spätestens ein, zwei Monaten die verwaltungsmäßigen Vorbereitungen getroffen haben wird, damit die landesweite Ausschreibung über die Vergabe der Enteisungsarbeiten auf der Brücke von Plombieres zügig vorangetrieben werden könne.
Lediglich die Zustimmung der Zentralbehörde in Brüssel zu dem eigens für diesen Notfall entwickelten 7-seitigen Formblatt in den drei Amtssprachen des belgischen Königreiches müsse noch abgewartet werden. Der König aller Belgen werde danach unverzüglich siegeln.

P.P.S.: Sollten sich jedoch die Witterungsverhältnisse rasch ändern, wenn der Wind zum Beispiel auf West umschlagen würde, wodurch er höhere Temperaturen brächte, da er von der nahen Nordsee und dem Golfstrom darin aufgewärmt wird, dann jedoch, bei laueren Winden, würden die Ausschreibungsvorbereitungen unverzüglich gestoppt. Das Siegel des Königs würde man aus der Vorlage entfernen und in einen Panzerschrank legen, wo es fortan unberührt verrotten dürfe. Also, in diesem durchaus wünschenswerten Fall werde die Strecke wieder frei gegeben, ohne dass man die Enteisungsarbeiten durchführt. Das Befahren geschähe dann auf eigene Verantwortung.

1487 mal gelesen

Zwischendurch - Vom Anfang und vom Ende - Nachtschwärmer online 4.1

Die Maastrichter Laan, von Westen kommend, wird beim Grenzübertritt im kleinen niederländischen Grenzort Vaals zur Vaalser Straße. Mit ihr beginnt die berühmte Bundesstraße 1. Einst führte diese 2000 Jahre alte Handelsstraße von Aachen bis Königsberg. Unterwegs macht die B1 einiges mit. Schon hinter Jülich verschwindet sie in einer Braunkohlegrube. Als junger Mann bin ich noch über die B1 durch das Dorf Lich-Steinstrass gefahren. Da wankten nur alte Mütterchen vor den zugenagelten Fenstern über den Gehsteig. Denn kurz danach sollte Lich-Steinstrass mitsamt der Bundesstraße 1 weggebaggert werden.

Ach, jetzt sind wir schon viel zu weit im Osten der B1.

Nochmal auf Los. - An der Deutsch-niederländischen Grenze bei Vaals beginnt die Bundesstraße 1. Sie steigt an - sie kommt ja aus den Niederlanden - überwindet bei Gut Kullen eine Kuppe und taucht dann schnurgeradeaus in den Talkessel von Aachen ein. „Vaals“ bedeutet übrigens "Tal". „Aachen“ bedeutet „Wasser“, - so schlicht sind die geographischen Namen.

Wo die B1 ihr wassersüchtiges Gefälle bekommt, durchschneidet sie den Aachener Westfriedhof. Beide Friedhofshälften sind durch eine alte Fußgängerbrücke verbunden. Die kleinere südliche Hälfte ist älter als die nördliche. Hier werden nur ganz bestimmte Personen begraben. Da ich diesen Personenkreis nicht kenne, hatte ich auch nie einen Anlass, durch den Torbogen zu gehen.

An einem grauen Tag im Herbst, an dem es nicht hell werden wollte, - ich war in düsterer Stimmung, - an diesem trüben Tag setzte ich mich aufs Rad und fuhr durch den kalten Dunst Richtung Niederlande. Der Weg führt an der Güterbahnlinie entlang, auf der ich vor einem halben Jahr und mehr, den „Nachtschwärmer Online“ fahren ließ.

Wo die Bahnlinie die Vaalser Straße kreuzt, bog ich ein. Da lag der Westfriedhof in der Dämmerung, und statt weiter zu fahren, querte ich die Straße und schob mein Rad durch die Pforte der alten Friedhofshälfte. Die Wege sind nicht asphaltiert. Man geht über knirschenden roten Split, Kies oder gestampfte Erde. Bald taucht ein Platz zwischen den Bäumen auf. Er wird nach Osten von einer großen Kapelle begrenzt. Um den Platz reihen sich gewaltige Grabmonumente. Alte Aachener Größen, Abkömmlinge großer Familien, sind hier unter steinernen Kolossen begraben.

Unsereiner wollte nicht soviel Geröll über dem Kopf. Mir würde ein Blechkranz genügen, damit ich hören kann, ob es regnet. Doch die Großen des 19. Jahrhunderts waren selbstherrlich und bigott. Da musste unbedingt ein Mausoleum her oder zumindest ein riesiger steinerner Engel. Engel aus Stein sind übrigens die irdische Variante. Sie fliegen nicht, sondern krachen irgendwann in sich zusammen.

Jedenfalls stand ich an den Grabmonumenten und versuchte mir zu vergegenwärtigen, welch wichtige Knochen dort verbuddelt lagen. Die Protzbauten auf alten Friedhöfen sind heidnisch. Sie sind noch der Idee verpflichtet, dass man seine Reichtümer mit ins Jenseits nehmen könnte. Vielleicht hat man ja das ein oder andere Dienstmädchen mit eingemauert, damit der hohe Herr etwas hat, womit er sich im Jenseits verlustieren kann. Tatsächlich hat es in Aachen einen unaufgeklärten Dienstmädchenmord gegeben. Ein kleiner Gedenkstein im Wald berichtet davon. Sie wurde am Fuße des Hügels gefunden, auf dem die Villa ihres Dienstherrn thronte. Man munkelt, er habe sie ermordet.

Was ein Mensch auf seinem Gewissen hat, nimmt er mit in seine Gruft. Was er sonst noch war und tat, ob er Häuser bauen ließ, Länder eroberte, eine Tuchfabrik besaß, das alles ist im Jenseits ohne Belang, ganz egal, was man glaubt. Im Gedenken der Menschen ist es nicht anders. Obwohl es Namen gibt, die das Gegenteil behaupten. Karl der Große, Alexander der Große, die Namen verbergen eine wesentliche Tatsache: Das waren doch vor allem große Menschenschlächter. Man mag sie in Geschichtsbücher schreiben, Denkmäler und Mausoleen für sie bauen – am Ende sind sie auch nur alte Knochen, die sich nicht besonders von deinen oder meinen unterscheiden.

Dieser alte Friedhof hat mich im Herbst eindrucksvoll mit dem Endlichen des Menschen konfrontiert. Es ist gut, sich das ab und zu klar zu machen, damit man im Leben nichts tut, was selbst durch steinerne Engel nicht getilgt werden kann.

Guten Rutsch

Weiter im
Hörspiel: Samstag, 17:30 Uhr
1106 mal gelesen

Es drückt was auf die Ohren - Nachtschwärmer -4-

Nachtschwärmer


Nachtschwärmer online - Folge 4: Es drückt was auf die Ohren
Text / Erzähler: Trithemius, Musik: Martin Kratochwil
Fortsetzung: Samstag, 17:30 Uhr
1051 mal gelesen

Der den Beuys schlug - Nachtschwärmer online (3)

Nachtschwärmer



Folge 3: Der den Beuys schlug
Text / Erzähler: Trithemius, Musik: Martin Kratochwil
Fortsetzung: Donnerstag, 16:30 Uhr
820 mal gelesen

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