Kopfkino

Nächtlicher Auftrag

Nächtlicher-Auftrag

Gestern Nacht lag ich im Bett und dachte: Mach, dass ich morgen einige wichtige Dinge erledigen kann. So hingeschrieben, klingt es wie ein Gebet. Es war aber nicht wie ein Gebet gemeint, denn eigentlich sprach ich mit mir und gab meinem Ich der Nacht einen Auftrag. Einfache Dinge erledigt mein Ich der Nacht prompt. Wenn ich ihm zum Beispiel sage, dass ich am nächsten Morgen um 6:05 Uhr aufwachen will, dann wache ich pünktlich um 6:05 Uhr auf. Und stimmt die Uhrzeit nicht ganz, dann geht die Uhr nicht richtig. Mein gestriger Auftrag betraf viel schwierigere Angelegenheiten, und trotzdem wurde auch er durchgeführt. Ich erledigte den Tag über einige Dinge zu meiner Zufriedenheit, kam gut in meiner Arbeit voran und schaffte es sogar, zwei Beiträge für das Teppichhaus zu schreiben, einen polemischen und diesen hier. Man kann also sagen, das Ich der Nacht hat das Tages-Ich gut bedient. Wie ist das möglich?

Ein Versuch der Verallgemeinerung: Die Handlungen des Menschen bei Tag beeinflussen auf unwägbare Weise die nächtlichen Träume, mithin das Erleben einer der beiden menschlichen Daseinsformen. In der Daseinsform des Wachens ist der Mensch wiederum von seinen nächtlichen Traumerfahrungen und den unbewussten Vorgängen beeinflusst. So ragt eine Daseinsform in die andere und bedingt sich wechselseitig.

Sich selbst einen Auftrag für die Nacht zu geben, ist eine seltsame Angelegenheit. Tag-Ich spricht mit Nacht-Ich, und wer ist es, für den sie es tun? Irgendwo in der Mitte zwischen beiden ist ein beobachtendes und erlebendes Ich. Dieses Ich profitiert von einer Zusammenarbeit der beiden anderen. Die Hirnforschung behauptet, sie habe eine solche Zentrale nicht gefunden. Trotzdem kann jeder Mensch sie erleben, wenn er sich einmal einen Augenblick selbst betrachtet und gleichsam gut auf sich und seine Handlungen achtet. Sie sollten auf die Zukunft gerichtet sein. Denn seltsam genug, auch das Ich, das du gestern warst, beeinflusst dein Heute. Also ist es ratsam, vernünftig für das Ich vom morgen zu sorgen.

Es scheint, als verstünden es einige gut, für sich selbst zu sorgen, andere könnten es gar nicht. Die es nicht können, verfügen nicht über die materiellen Mittel, ihr Leben angemessen zu gestalten. Das würden sie auch nicht können, wenn sie sich nächtliche Aufträge geben, denn ein solcher Auftrag muss sich im Rahmen der eigenen Möglichkeiten bewegen. Es geht um Bildung, Können und Kapital, und wenn sie fehlen, ist Hilfe von außen nötig. Das Schicksal dieser Menschen muss einen nicht einmal groß bekümmern. Sozialer Ausgleich ist eine Angelegenheit der Vernunft. Es ist vernünftig, sich sozial zu verhalten, weil die Gesellschaft insgesamt durch ihren Zusammenhalt gestärkt wird. Sie ist effektiver, und das kommt allen zugute. Deshalb muss die verantwortliche Selbstsorge erweitert werden. Zu ihr gehört auch soziales Verhalten. Unsere Ichs der Zukunft freuen sich, wenn wir ihnen eine freundliche Welt bauen, in der es sich gemeinschaftlich gut leben lässt.
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Sonntagstour - Verwirrte Zeiten

Sonntagnachmittag zwischen Tag und Traum – eine befremdliche Stimmung über der Stadt. Richtig hell ist es den ganzen Tag über nicht gewesen, und gegen drei dämmert es bereits. Es ist die Zeit der bummelnden Paare ohne besonderes Ziel, in der Hoffnung, dass sich irgendwo etwas Sehenswürdiges findet. Und wo sich nur die Schaufensterauslagen stummer Läden betrachten lassen, ziehen namentlich die Männer, denen eine Frau im Arm hängt, Gesichter zwischen Missmut und Unglück. Das ist übrigens bei den meist jüngeren Händchenhaltern anders. Könnte es sein, dass große und ausdauernde Nähe die Langeweile im Gepäck hat?

Auf der Pontstraße unterhalb
des Markts rieche ich frisches Fleisch. Es gibt keine Metzgerei in der Nähe, und gäbe es eine, hätte sie geschlossen. Hat man etwa am heiligen Sonntag auf einem Hinterhof eine Sau abgestochen und zerhauen? Und das an diesem trüben Nachmittag? Eine Spur von Pferdeäpfeln führt über das Pflaster hinauf auf den Markt. Hier ist ein kleiner Menschenauflauf, und zwischen den dunkel gekleideten Passanten blinken Ritterrüstungen, streichen Herolde und Weibsbilder in Trachten umher. Über ihren Köpfen blitzen Schwertklingen auf und schlagen klirrend aneinander. Ein Planwagen steht auch da, und dunkle Zelte aus roher Leinwand sind errichtet. Rauch zieht gen Himmel, - in geschmiedeten Ständern glimmen Feuer. Was ist das für ein rustikaler Zauber? In einem geöffneten Zelt sitzen welche über Bratwürsten, und die werden verkauft an einem Stand der Metzgerinnung. An der Rückwand ein Plakat: „125 Jahre Aachener Metzgerinnung“. Hm. Wenn die Aachener Metzgerinnung noch so jung ist, was hat sie dann mit der Ritterzeit zu tun? Das erschließt sich nicht. Vielleicht ist einer der Innungsmeister in einem Verein von Freizeitrittern und hat das Spektakel angeregt.

Man kann das
Rathaus besichtigen. Kostümierte mit Hellebarden flankieren das Portal. Man muss sich nur zwischen ihnen hindurchtrauen, der Eintritt ist frei. Auch im Foyer stehen kostümierte Kerls. Sie werden an diesem Tag hunderte Mal fotografiert, und falls sie bei jedem Foto ein bisschen von ihrer Seele verlieren, sind sie fortan seelenlos. Eine Frau vom Fremdenverkehrsamt führt ins Amtszimmer des Bürgermeisters. Es zeigt nach hinten hinaus, auf den Katschhof. Die Fremdenführerin erzählt, als auf dem Rathausgrund noch die Kaiserpfalz stand, habe Kaiser Karl genau wie der Oberbürgermeister hinaus auf den Katschof geschaut, denn der Eingang sei damals auf der Katschhofseite gewesen, damit der Kaiser seinen Dom im Blick hatte. Ja, gut dass wir jetzt wissen, wo Karl der Große hingeguckt hat und in welcher Rausguck-Tradition der Oberbürgermeister von Aachen steht.

Die Fleischerinnung erinnert mit
frischer Bratwurst an das 19. Jahrhundert, ein Verein spielt Mittelalter, wie Kaiser Karl im 9. Jahrhundert aus dem Fenster geguckt hat, weiß eine Dame vom Verkehrsverein, und Japaner auf Fünf-Tage-Europa-Trip fotografieren die Inneneinrichtung im Aachener Barock, - was für ein Durcheinander. Übrigens wollte ich niemals hinsehen müssen, wo der Oberbürgermeister von seinem Schreibtisch aus hinschaut, wenn er mal nicht aus dem Fenster guckt. Er hat da etwas Scheußliches vor Augen. Ich habe es fotografiert, zeige das Bild aber erst am Schluss, um meine werte Kundschaft nicht zu verschrecken.

Im Krönungssaal, versteckt hinter
großen Pinwänden, lässt sich eine Stahltür öffnen. Sie führt ins Treppenhaus einer großen Wendeltreppe, in dem allerlei Gerümpel abgestellt ist. Es riecht nach Wein. An den Wänden sind gelegentlich alte Ziegel und noch ältere Bruchsteine zu sehen. Von weiter unten tönt das Klirren von Gläsern. Dort scheint eine Küche zu sein. Und unten am Fuß der Treppe läuft der Gang stumpf aus. Da ist eine Stahltür an der Seite, auch sie lässt sich öffnen. Ich stehe auf einer Treppenstufe und sehe hinab in einen Versammlungsraum, aus rohen Bruchsteinen gemauert. Der Saal ist voller Menschen an eingedeckten Tischen, die neugierig den Kopf wenden, denn die laut zufallende Seitentür stört einen Vortrag. An der Stirnseite des Raumes stehen fünf Männer in dunklen Anzügen auf einer Bühne. Sie haben Fühler auf dem Kopf und tragen in knubbeligem Hochdeutsch einen Sprechgesang vor. Da bin ich mitten in eine Geheimgesellschaft geplatzt, die unbemerkt von den oben herumlaufenden Touristen in einem verschwiegenen Ratskeller ihre Riten abfeiert.

Und ich habe meine
Jeckenkappe nicht bei mir. Man schaut mich abweisend an, will mich nicht dabeihaben, hatte ohnehin die Kellnerin erwartet, als ich durch die Tür kam. Deshalb lege ich gar nicht erst ab, sondern schlage den Mantelkragen hoch und gehe wieder. Es freut mich, dass die zufallende Stahltür noch mal ordentlich scheppernd ins Schloss fällt. Ich will schließlich auch einen Spaß machen.

Der Flügel eines schmiedeisernen Tores lässt sich aufschieben, ich stehe wieder auf dem Markt, abseits des halblustigen Treibens. Solch schmiedeeiserne Tore hat einst mein Vater gemacht. Auch mein Großvater und mein Urgroßvater waren Schmiede. Drum will ich einmal etwas zur Ehrenrettung der Schmiede sagen. Die Jakobsstraße hoch, da kommen wir an einem Denkmal für den wehrhaften Schmied vorbei. Von ihm erzählt die Sage, er habe in Gertrudisnacht von 1278 den Grafen Wilhelm von Jülich und seine Söhne mit dem Hammer erschlagen und so die Stadt gerettet. Graf Wilhelm war im Morgengrauen mit 500 Gefolgsleuten in die Stadt eingedrungen, und als er auf Widerstand stieß, wollte er sich zurückziehen. Da kam auf dem Weg zur Arbeit ein Schmied daher und schlug kurzerhand mit seinem Hammer zu. Früh morgens sind Schmiede nämlich schlecht gelaunt und brauchen einen Amboss. Zur Not tut’s da auch ein behelmter Kopf.

In Wahrheit war der
Mann kein Schmied gewesen, sondern ein Metzger. Es gab natürlich schon vor 1883 Metzger in Aachen. Metzger stehen auf im Bewusstsein, dass sie im Morgengrauen Blut vergießen werden. Es sieht genauso aus wie Menschenblut, und vermutlich riecht es auch so. Der wehrhafte Metzger jedenfalls fand nichts dabei, den flüchtenden Grafen und seine Söhne hinzuschlachten. Er tat es der Sage nach wortlos und natürlich mit einem Schlachterbeil. Später war den Aachenern die Sache peinlich. Die Stadt wurde nämlich wegen dieser Morde dazu verurteilt, die Grafenwitwe Richarda zu entschädigen. Und damit die Sache nicht ganz so blutig in Erinnerung blieb, machte man aus dem Metzger einen Schmied. Der steht nun in Bronze gegossen an der Jakobstraße und hält einen schweren Hammer bereit.

Für das angekündigte
Handyfoto müssen wir noch einmal zurück ins Rathaus. In den 50er Jahren habe man ins Amtszimmer des Oberbürgermeisters diese Sitzgruppe gestellt, erzählte die Fremdenführerin, was damals von vielen als Stilbruch kritisiert worden sei. Und als die Stühle verschlissen waren, habe man ähnliche besorgt. Das klingt irgendwie ulkig, denn warum sollte man einen Stilbruch erneuern, wenn er glücklich verschlissen ist? Haben Stilbrüche nicht etwas Derbes und in sich Hässliches? Wer als Oberbürgermeister in einem historischen Rathaus von lauter alten Dingen umgeben ist, hat es gewiss schwer, das Drinnen des Rathauses mit dem Draußen seiner Mitbürger in Einklang zu bringen. Gebäude stehen still da, rühren sich nicht und verraten nichts, und trotzdem beeinflussen und formen sie die Menschen, die zwischen ihnen daherlaufen oder sich in ihnen aufhalten. Und ich frage mich, was macht zum Beispiel dieser Anblick hier mit meinem Oberbürgermeister:

Sitzgruppe des Grauens

Hoffentlich schaut der Mann oft aus dem Fenster.
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Eine Nacht im Raiffmuseum

Halloween special
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Eventuell du selbst - Ausfahrt in fünf Etappen

BlattwerkZeit der Saatkrähen. Fett und selbstgewiss sonnen sie sich auf der Hangwiese, zwischen ihnen wartet ein Graureiher. Mal erhebt sich eine Krähe mit leichtem Flügelschlag und zieht die anderen mit. Sie segeln im Wind, landen auf Weidenpfählen, fliegen wie nach gemeinsamem Ratschluss wieder auf, lassen ihr aggressives Kräääh hören, landen und suchen mal schreitend, mal hüpfend nach Nahrung.

Da entfernt sich eine Krähe übermütig von der Gruppe und steigt hoch hinauf in den blauen Himmel. Plötzlich ist ein Baumfalke bei ihr. Ein hartnäckiger Luftkampf beginnt. Für eine Weile ist nicht auszumachen, wer Jäger, wer Gejagter ist. Offenbar hat sich der Falke vertan, denn gemeinhin vergreift er sich an kleineren Vögeln. Er ist schneller als die Krähe, doch sie ist kein ängstlich flatternder Star. Sie wehrt sich und entzieht sich immer wieder durch enge Kreise, so dass der Falke über sein Ziel hinausschießt. Mal ist er über, mal unter ihr – nur ein richtiger Fangstoß gelingt ihm nicht. Die Krähe ermüdet, umrundet eine kleine Baumgruppe und rettet sich auf einen Weidenpfahl. Ihr Widersacher zieht einen suchenden Kreis, dann schießt er hinab und scheucht seine Beute auf. Erneut steigen sie in den Himmel, umkreisen sich im Tanz auf Leben und Tod. Endlich besinnt sich der Falke, lässt von der widerspenstigen Beute ab und fliegt davon. Matt kehrt die Krähe in ihre Gruppe zurück. Sie wird hungrig sein und bald nach einem Happen Ausschau halten. Dann muss Fräulein Spitzmaus unter der schönsten Herbstsonne sterben.

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Mitten im Anstieg auf den Höhenrücken war ich vom Rad abgestiegen, aufmerksam geworden durch das Geschrei der beiden Vögel. Jetzt steige ich wieder in die Pedale – es geht mühsamer als zuvor. Dabei führt der Weg hier noch schräg den Hang entlang. Beim Radsporttraining fuhr ich einmal mit einer großen Gruppe in die Eifel. Plötzlich bogen die Vorderleute ab, und es ging steil hinauf. Ich schaltete zweimal kurz hintereinander, und nach dem zweiten Mal sagte einer hinter mir: „Dat wor dä Letzte!“ Für einen Augenblick sank mein Mut, denn ich hatte keine Ahnung, wie lang der Anstieg sein würde und ob er eventuell noch steiler zu werden beliebte. Solche Bemerkungen gehören zur Zermürbungstaktik. Man darf sich davon nicht beeindrucken lassen, sonst verkrampft man und sackt wie ein Stein durchs Fahrerfeld. Hier hilft ein Gedanke: Was dir selbst weh tut, tut auch anderen weh. Denn es ist nicht ausgemacht, ob der andere nicht blufft und sich auf deine Kosten zu stärken versucht.

Trotzdem ist es gut, einen Gang in Reserve zu halten, was ebenfalls eine allgemeine Lebenslehre ist. „Alles uit de kast“ - „Zijn duivels ontbinden“ - alles geben, was möglich ist, sollte man nur in Ausnahmesituationen. Bald wird der Weg zum Hang hin abbiegen, als hätten seine Baumeister keine Lust mehr gehabt, die Steigung zu mildern. Dann brauche ich den Letzten, und aus dem Sattel muss ich auch, um die kleinste Übersetzung drehen zu können. Zum Glück ist niemand hinter mir, der es höhnisch trocken quittiert.

Zeit übers Rauchen zu fluchen, aber meine schlechte Kondition hat auch etwas mit den bequemen Wegen der letzten Wochen zu tun. Über den steilen Weg nur Gutes, denn mit seiner Hilfe habe ich mich aus dem lauten Talgrund der Maastrichter Laan erhoben, und schon auf halber Höhe gewährt er einen weiten Blick übers Tal und auf die dunstige Hügelkette am Horizont. Weiter oben verschwindet der Weg in einem Einschnitt, und dort werfen Bäume und Büsche seltsame Schattenmuster, in die sich aus der Ferne allerhand hineinsehen lässt. Die blitzende Herbstsonne gaukelt mir tagträumerisch einen Schattenmann vor, der oben im Hohlweg einen schwarzen Hund an der Leine führt.

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Bekanntlich symbolisiert ein geträumter Hund die menschlichen Triebe; diesen Hund gelegentlich an die Leine zu legen, das macht den kultivierten Menschen aus. Indem ich mich zwinge, den Anstieg zu nehmen aus purem Übermut und ohne äußeren Grund, habe ich mich selbst an der Leine. Und ist der Weg auch steil, es ist stets angenehmer, sich selbst anzutreiben als sich dem Zwang eines Stärkeren zu unterwerfen.

Mann und Hund lösen sich im Herannahen auf, sind harte Schatten im Hohlweg, und das Gesicht des Mannes ist nur trockenes Blattwerk. Steinchen und Blätter knistern unter den Reifen, noch zwanzig Tritte und ich habe das steilste Stück hinter mir. Diese Wegstrecke ist wie eine symbolische Ypsilonabzweigung. Der linke Ast des Ypsilons ist weiterhin asphaltiert und bequem zu fahren. Der rechte bleibt steil. Er ist nur eine Karrenspur im Gras, von einem Maisfeld gesäumt. Mehrfach schon war ich versucht, ihn zu fahren, und für einen Augenblick halte ich auf ihn zu. Doch dann ertönt vom Feld oben der aufbrausende Motor eines Traktors. Zu blöd, denke ich, dass einem auf dem rechten Weg neuerdings Traktoren entgegenkommen, so dass man unter die Räder zu kommen droht, weil die Böschung keinen Platz zum Ausweichen bietet.

Der linke Weg führt an einer längst abgeernteten Apfelplantage vorbei, dann stößt er im spitzen Winkel auf die Straße. Ich biege um die Ecke nach Osten ab. Einige Kilometer geht es jetzt durch die Felder über einen Höhenkamm. Leider rollt es nicht, ein kalter Wind aus Ost bremst die Fahrt. Es wird immer schwieriger, den rechten Weg zu finden. Die Sachverhalte werden stetig wirrer. Seit Tagen schwirrt mir der Kopf – zu viele Informationen aus zweiter Hand, allgemeines Hörensagen, nur selten eigene Anschauung, wie soll man da den Durchblick bewahren. Was alltäglich vom medialen Affenfelsen gerufen, getutet und geblasen wird, diese nervtötende Kakophonie ist kein getreuliches Abbild des Lebens, sondern im hohen Maße selbstbezüglicher Medienrummel. In unserer Welt vollzieht sich ein gewaltiger Umbruch, und das meiste geschieht im Verborgenen, ist schwer zu erhellen und einzuschätzen. Da ist es auch für ehemals seriöse Journalisten bequemer, irrelevante Nachrichten über eine durchgeknallte Ex-Tagesschausprecherin zu verbreiten. Dabei kann sich doch jeder denken, dass eine Frau, die früher alles vom Blatt abgelesen hat, mit eigenen Gedanken überfordert ist.

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Genug davon und
kein Wort mehr darüber. Es ist ein Kreuz, dass die Aufnahmekapazität des postmodernen Menschen beständig zugekleistert wird mit Schwachsinn und Berichten über die Produzenten von Schwachsinn. Ein Hinweisschild am Straßenrand zeigt eine Telefonnummer. Wer mutwillige Milieuvervuiling (Umweltverschmutzung) beobachtet, kann dort anrufen. Auf den ersten Blick ist’s eine gute Idee. Allerdings ist der Denunziant keine erfreuliche Erscheinung. Jedermann sein eigner Polizist, nicht der seines Nachbarn. Wenn wir wollen, dass unsere von Informationen und Daten geprägte Gesellschaft lebenswert bleibt, müssen wir neue Regeln des Zusammenlebens finden. Die umfassende Kontrolle durch den Staat wird das Leben nur härter machen, denn Überwachung ist ein Produkt der moralischen Verkommenheit. Die Deppen mit dem Ohr an der Tür des Nachbarn sind nur asozial, eine Staatsmacht, die ihre Bürger aushorchen will, ist antisozial.

Wir alle sind Opfer der Überwachung durch Wirtschaft und Staat. Doch einige Untaten verüben wir an uns selbst. Leichtfertig tragen wir private Dinge in die Öffentlichkeit. Bequemlichkeit oder Technikverliebtheit verstellt uns den Blick auf die Folgen für das eigene Leben und die Gesellschaft. Vor etwa zehn Jahren sah ich in der Stadt einen jungen Mann, der an einem Hemdenständer drehte und dabei jemanden per Handy befragte: „Verdammte Scheiße, wie soll ich denn wissen, welche Farbe dir gefällt!“, schimpfte er. Ich war verwundert, dass da jemand seinen privaten Kram so ungeschminkt in die Öffentlichkeit trug. Inzwischen zählt diese Form der Geistesverwirrung zum Normalverhalten.

Nicht nur
Banales, auch was früher verschämt unters Sofa geschoben wurde, das liegt im Scheinwerferlicht, wird abgefilmt und über diverse Kanäle der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Die Welt scheint oktoberbunt, doch im künstlichen Licht der Scheinwerfer wirft ein jeder von uns einen stetig größer werdenden Datenschatten. Er bildet verschiedene Facetten unserer Leben ab, und durch die Vernetzung der Facetten entstehen digitale Schattenmenschen.

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Zu-hohe-Spannung

Entschuldigung, war nicht so gemeint, so unter der hellen Oktobersonne - die äußeren Umstände ließen mich in schwere Gedanken geraten. Gegen den kalten Ostwind an, da rollt es einfach nicht. Bin auch, wie gesagt, ein wenig aus der Übung. Doch wenn der Geist überspannt ist, hilft die Anspannung der Muskeln. Da ist immer noch jemand stärker als du - eventuell du selbst.

Guten Abend
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Nutzloses Schallexperiment mit Vokalen

Schallexperiment02

(Zeichnung und Ausführung: Trithemius)
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Wie soll ich wissen, was ich denke, bevor ich höre, was ich sage?

Angenommen du hättest gerade großen Hunger. Vor dir stünden zwei dampfende Teller mit jeweils einem deiner Leibgerichte, beide vorzüglich zubereitet. Nehmen wir an, von beiden Gerichten ginge die gleiche Verlockung aus und du wüsstest, dass nach deiner Entscheidung der andere Teller sogleich weggenommen wird. Wie entscheidest du dich? Du nimmst den rechten Teller? Gut, dann trage ich den anderen hinaus und kippe das Essen ins Klo.

Wie fühlt sich deine Wahl an, nachdem du gelesen hast, was mit dem anderen Gericht passieren wird? Willst du es dir vielleicht noch einmal überlegen? In dieser unerquicklichen Entscheidungssituation bist du nach den Befunden der Hirnforschung nicht frei. Der Physiologe und Hirnforscher Wolf Singer glaubt, dass du in deinen Handlungen durch die Struktur deiner Neuronen vorbestimmt bist. Während du noch hin- und hergerissen bist, welches Gericht du der Vernichtung überantworten willst, versuchen neuronale Prozesse in deinem Hirn die im Augenblick richtige Entscheidung auszukungeln. Doch da stehen zwei gleichwertig leckere Gerichte vor dir, und du willst dich gegen keines entscheiden. Damit das Essen nicht kalt wird, brauchst du dringend einen Impuls, der von außerhalb deines Gehirns kommt. Da wechselt plötzlich das Licht. Und im neuen Licht besehen, lässt du mich einen der beiden Teller abräumen.

Warten-bei-Rot-warten-bei-G
Warten bei Rot - warten bei Grün - Handyfoto/Gifgrafik Trithemius 09/07

Das Unwägbare, das in diesem Fall deine Wahl bedingt, nennt Singer „thermisches Rauschen“. Was bedeutet das? Bist du Atheist und Materialist, glaubst du, das thermische Rauschen, das deine Willensentscheidungen beeinflusst, sei zufälliger Natur. Vielleicht glaubst du jedoch nicht an Zufälle, sondern an göttliche Fügungen bzw. an spaßreligiöse Ideen wie leitende Engel oder das gütige Universum. Im ersten Fall bist du also abhängig von Zufällen, im anderen Fall leitet dich Magie.

Was ist neu an der Erkenntnis, dass unsere Willensentscheidungen auf neuronalen Prozessen beruhen? Wie anders sollte es möglich sein? Irgendwo in unserem Gehirn müssen sich doch Zustände messbar ändern, wenn etwas gedacht wird. Der freie Wille kann nicht aus nichts bestehen. Auch die Reihenfolge ist plausibel. Wenn ich mich für etwas entscheide, muss das irgendwo schon gedacht sein, und zwar bevor ich es in Worte kleiden kann, denn wir denken nicht in Wörtern. Die Wörter geben unserem Denken nur eine fassbare Struktur. Erst wenn wir aus den Wörtern Bilder machen, verschaffen wir uns Klarheit über die Situation.

Der freie Wille ist ein Bild. Der Mensch projiziert sein Selbstbild nach draußen, damit er es betrachten kann. Und dann entscheidet er sich nach seinem Bild, nach seinem Willen. In dieser seiner Fantasie ist er frei und verantwortlich. Diese Verantwortung hat er allein durch seine Existenz. Sie schließt ein, dass er sich vergewissert, wie er in der Welt steht, und dass er sein natürliches Verhalten gegebenenfalls revidiert, also ein neues Willensbild von sich entwirft. Und hat er mit dem thermischen Rauschen zu tun, dann funken ihm Zufall oder Weltgeist hinein, ganz so, wie es zu seinem Weltbild passt.

(Diskussion hier)
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Intergalaktische Kommunikation

KommunikationstörungWo der Palisadenzaun des Nudistencamps beginnt, zweigt ein Weg nach rechts ab durch den Wald. Dort ballt sich eine Menschengruppe, als wären ihre Mitglieder von verschiedenen Seiten herbeigeströmt. Während ich mich durch den Matsch des Wegrands vorbeifädele, tönt aus dem allgemeinen Verzäll die Stimme einer älteren Frau im Rollstuhl: „Ich spreche akzentfrei Niederländisch, so dass mich ein Arzt gefragt hat: Wo kommen Sie eigentlich her?!“

Das könnte man jetzt falsch verstehen, als hätte der Arzt nach der Herkunft der Dame gefragt, um das Zentrum einer Epidemie zu lokalisieren, denn manche halten das Niederländische ja für eine Rachenkrankheit. Eigentlich ist Niederländisch jedoch eine hübsche Sprache, weshalb ich die Frau um ihre Fähigkeit beneide. Wenn ich in Südlimburg Niederländisch sprechen will, antwortet man mir auf Deutsch. Die Niederländer wollen offenbar nicht, dass ein Deutscher ihre Sprache verhunzt.

Wo kommen wir eigentlich her? Und was tun wir bei der Palisade des Nudistencamps? Als Student bin ich hier einmal vorbeigekommen, da saß ein Mann im Baum und schaute mit seinem Fernglas den Nudisten zu. Was er da wohl gesehen hat? Mir reicht eigentlich, was man in einer Sauna zu sehen bekommt, wenn die schützenden Bademäntel fallen. Da guckt man lieber nicht zuviel um sich, denn die meisten Leute sehen angezogen besser aus.

Wir sind nicht wegen der Nudisten hier, sondern über die Serpentinen des Dreiländerwegs heraufgekommen, und bevor wir in den Wald fuhren, hätten wir einen schönen Blick über den Aachener Kessel gehabt, wenn es nicht so diesig wäre. Der Himmel hat einen merkwürdigen Zustand zwischen blau und bewölkt, als hätte das Wetter ein Praktikant gemacht. Das besorgt mich ein bisschen. Sollte der Himmel sich zuziehen, und der Praktikant gar ungeschickter Weise einen Temperatursturz herbeiführen, bin ich zu leicht angezogen, denn ich war erkältet.

Wir lassen den Menschenauflauf um die perfekt Niederländisch sprechende Dame hinter uns und rollen zwischen Palisade und Waldrand zur Stelle im Wald, wo sich Belgien, die Niederlande und Deutschland treffen. Dann befinden wir uns am Drielandenpunt, dem höchsten Berg der Niederlande. Man kann dort um eine Säule herumgehen und die imaginären Grenzen in einem Rund überschreiten. Prompt kommt die Sonne hervor und bescheint das bunte Treiben der Tagestouristen.

Übrigens ist der Himmel der Rhinoviren auch manchmal wolkenlos, - wenn keine lästigen Antikörper in der Nähe sind. Dann besuchen sie lustig Ausflugsorte und vermehren sich glücklich unter der Sonne des erkälteten Wirts, und leider befallen sie nicht nur Wirte, sondern auch deren Gäste. Rhinoviren werden meist von Hand zu Hand gegeben, und alle, die Ess- oder Trinkbares reichen, sind die Netzbetreiber für die Kommunikation zwischen Rhinovirus und Mensch. Diese Kommunikation findet statt, wenn wir auch die Inhalte sehr einseitig interpretieren. Sind zum Beispiel die Schleimhäute des Menschen durch das Wirken der Rhinoviren gereizt, bemerkt der befallene Mensch die Anwesenheit von Mikroorganismen, weil’s weh tut. Wehrt sich das Immunsystem des Menschen, erleben die Mikroorganismen, wie unwirtlich ihr Kosmos sein kann. So richtig für den anderen freuen kann man sich also nicht.

Ohrenaufhängung
Welch ein Gewusel am Drielandenpunt, die reinste Kirmes. Ein Dicker mit Wanderstock beguckt sich versonnen die Namentassen vor dem belgischen Andenkenladen. Er ist wohl nicht dabei, aber den einen oder die andere kennt er bestimmt. Theoretisch lassen sich alle Touristen bei den Ohren aufhängen, doch die Vielfalt der Namen nimmt zu und wird auch immer seltsamer, das ist bei den westlichen Nachbarn nicht anders. Von manchem Knurr-, Gurr-, oder Zischlaut weiß man erst, dass er ein Name ist, wenn er auf einer Andenkentasse auftaucht. Die Welt der Namen zerstreut sich. Dem Zwang zur Konformität setzt der Mensch eine Individualisierung der Vornamen entgegen. Das wirkt ein bisschen hilflos und ist pure Namenmagie.

Unsere Sprachen beruhen auch auf der Idee der Namenmagie. „Benannt – Gebannt“, auf diese Weise eignet sich der Mensch die Welt an. Leider kümmert sich die Welt nicht um unsere Namenmagie. Sie gilt nämlich nur in der menschlichen Gemeinschaft.

Eigentlich müssten wir allen Lebewesen Empfindungen zubilligen, die der menschlichen Empfindung gleichwertig sind. Denn dass wir nichts darüber wissen, wie andere Lebewesen die Welt für sich reklamieren, ist kein logisch vertretbarer Grund, sich als die Krone der Schöpfung zu betrachten. Wir Menschen können uns ja auch nur gegenseitig über unsere Sicht der Welt Auskunft geben, und selbst da haben wir Verständigungsprobleme.

Sag mal, von Hollands höchstem Berg aus betrachtet, ist die Tiefsee dann tiefer? Man ist auf jeden Fall weiter weg von der ewigen Nacht des Meeresgrunds. Wie der Vielborster der Tiefsee die Welt erlebt? Er betet nicht die Sonne, sondern das Erdinnere an, denn seine Lebensenergie kommt aus unterseeischen Vulkanen. Doch die Nahrung kommt von oben. Ab und zu sinkt ein riesiger Kadaver wie Manna aus seinem Himmel.

Wusstest du, dass derzeit etwa 5000 Walkadaver in der Tiefsee die Nahrung für die absonderlichsten Wesen bieten, die in dieser Welt entdeckt wurden? Seit 30 Millionen Jahren sinken Walkadaver herab, und um sie herum entfaltet sich ein reges Leben von Wesen, die uns fremder sind als alle Aliens, die du bisher im Kino sehen konntest. Wenn ich als Tagestourist über den Drielandenpunt streife, dann mag ich denken, ja, so ist die Welt. Doch so einfach ist die Welt eben nicht. Sie besteht aus unzähligen Kosmen, die sich alle irgendwie durchdringen. Die Gesamtheit aller Kosmen bildet das System unserer Welt. Ihre gemeinsame Basis ist der Austausch von Information. Ihre gemeinsame Musik ist Entstehung, Wachstum und Verfall im Wechselspiel.

Mit einem Hund zu kommunizieren ist leichter als mit einem Vielborster oder einem Rhinovirus zu kommunizieren, doch je fremder die Information, desto höher ist ihr Informationsgehalt, das ist schlichte Informationstheorie. Daher ist nicht nur das Leben im menschlichen Rachenraum, sondern auch das in der Tiefsee wichtiger für die Gattung Mensch als die Frage, ob wir uns gerade in Belgien, den Niederlanden oder Deutschland befinden. Wenn sich also alle Kosmen durchdringen, und jede Erscheinungsform des Lebens ihre eigene Interpretation der Welt hat, dann tut der Mensch gut daran, den anderen Arten nicht seine Interpretation der Welt aufzuzwingen. Denn anders wird deren Antwort für uns so unfreundlich sein, dagegen sind Halsschmerzen ein Sonntagsthema.

Nachdenken über die Tiefsee

Auf Hollands höchsten Berg:
Nachdenken über die Tiefsee und intergalaktische Kommunikation
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Einmal herzhaft gähnen

Wasserballett
(Fotomontage: Trithemius)


Zur Zeit macht sich ein kleines Atlantik-Tief über Deutschland her, „und das wirkt sich auch auf den Tagesschauströmungsfilm aus!“, drohte gestern Abend ein Kachelmann. Aha, oho, da rauscht also ein Tiefdruckgebiet heran, bringt heftigen Wind, gar Sturm vielleicht, und der wiederum mischt den Tagesschau-Strömungsfilm so richtig auf, so dass seine Pfeile wirr über Deutschland schwärmen. Und gucke ich raus – da jagen tatsächlich Kachelmanns Strömungspfeile am Himmel, zischen auch durch die Botanik und biegen Busch und Baum. In den Wald soll man da lieber nicht gehen, sagte Kachelmann.

Ein Meteorologe ist
Jörg (!) Kachelmann nicht, er tut nur so, denn studiert hat er etwas anderes, und bevor er seinen privaten Wetterdienst aufgebaut hat, arbeitete er beim Radio. Wenn seine ausufernde Wetterberichtsshow im Fernsehen zu Ende ist, frag ich mich oft „und wie wird jetzt das Wetter?“ Allerdings ist sein Armrudern vor diversen Karten und der verbale meteorologische Kinderkram ganz ulkig, wenn man ordentlich bekifft ist. Dann macht sogar Kachelmannexegese Spaß. Früher sorgte ich mich freilich nie um eventuell gegebenenfalls umherzischende Strömungspfeile oder Grenzlinien von Tiefs oder Hochs über dem Atlantik. Da habe ich einfach mal aus dem Fenster geguckt, wie die Leute rumlaufen. Doch wenn heute einer einen Schirm aufgespannt hat, weiß ich nicht, ob da Regentropfen fallen oder Strömungspfeile. Mir würde Jörg Kachelmann und seine Mitarbeiterin Claudia Kleinert im Maßstab 1:87 gut gefallen, er mit seinem Schirmchen im Wetterhäuschen, sie mit Sonnenblümchen vor der Tür.

Wer hat das gesehenWir gucken noch mal
raus: Et is am rääne.
Ist eigentlich die
Klimaerwärmung
vorläufig abgesagt?
Heute schon gegähnt?
Ach, komm, wir gähnen
mal ein bisschen. Das ist
nicht nur soziale
Interaktion, sondern
hält auch die wilden
Tiere davon ab,
uns aufzufressen,
behaupten jedenfalls
meine Blättchen.

Kusch! Und Klappe zu! Das ist Quatsch, bitteschön, zumindest blanke Spekulation. Auch wilde Tiere gähnen. Ihr seid eben nur Zigarettenblättchen und kein Lexikon. Übrigens ist die indogermanische Wurzel des Wortes „gähnen“ onomatopoetisch, ahmt also den Gähnlaut nach. „Gähnen“ bedeutet „den Rachen aufsperren“ und ist sowohl verwandt mit „klaffen“ wie auch mit griech. "cháos" - leerer Raum, Luftraum, Kluft. Aus dem Wort „Chaos“ hat wiederum der Brüsseler Chemiker J. B. v. Helmont (1577-1644) die gelehrte Neuschöpfung „Gas“ gebildet, ein Wort das erst im 19. Jahrhundert durch das Aufkommen der Gasbeleuchtung in die Allgemeinsprachen eindrang. Und, wer hätte das gedacht, auch das Wort „Gans“ ist mit „gähnen“ verwandt, weil die Gans den Rachen ganz weit aufzureißen versteht und Fauchlaute von sich gibt. Angeblich gähnt sogar die Ameise, bevor sie sich ans Tagwerk macht. Und dann gähnen auch die anderen Ameisen, damit sie nicht von wilden Tieren gebissen werden.

Warum ist Gähnen ansteckend? Es schützt die Gruppe vor herunterfallenden Strömungspfeilen, ganz bestimmt. Übrigens halten wir die Hand vor den Mund, damit beim enthemmten Gähnen die Seele nicht rausflutscht, denn sie ist ja auch nur irgend so ein Gas. Weil Gänse keine Hände haben, wird ihnen in manchen Gegenden Frankreichs die Seele immer wieder reingestopft, was ihnen aber irgendwie auf die Leber schlägt.


Ja, und damit der Regen nicht aufs Gemüt schlägt, vergeuden wir noch ein bisschen Zeit und bummeln weiter durch die Etymologie. Das Wort „vergeuden“ – nutzlos vertun – ist natürlich auch mit „gähnen“ verwandt. Vergeuden ist eine Präfixbildung zu dem untergegangenen mittelhochdeutschen Verb „guiden“ – prahlen, groß tun, das Maul aufreißen. Wenn Kachelmann jetzt nicht Jörg sondern Guido heißen würde, dann hätte das aber leider nichts mit guiden zu tun. Das wäre Volksetymologie. Guido ist die Kurzform zu Witold und bedeutet Herrscher des Waldes. Das Wort „Wald“ wiederum ist in seiner Herkunft dunkel wie der Wald selbst. Deshalb lieber nicht reingehen (s.o.). Eventuell gehört „Wald“ zur Wortsippe von „wild“. Und das bedeutet „nicht angebaut“, also einfach so wachsend. Genauso ist der heutige Text, - nicht angebaut, sondern einfach unter einem Atlantiktief und Kachelmannschen Strömungspfeilen gewachsen.
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Beschaulicher Bummel

Hier werden Sie gerüstet

Die Urform des heutigen Wegweisers hat statt eines Richtungspfeils eine geschlossene Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger. Dieser Wegweiser stand stellvertretend für den Arm eines Menschen und war für Fahrende und Wanderer der Vergangenheit viel wichtiger als heute. Denn in unseren Zeiten ist das Wegenetz gut ausgebaut und beschildert. Da ist ein Vorankommen einfach und ein Verirren selten tragisch. Der Wanderer der Vergangenheit war froh um jedes Wegzeichen, denn es bewahrte ihn vor dem Verderben in einer schier endlosen Fremde. Man kann sich die Erleichterung vorstellen, mit der er die zeigende Hand begrüßte.

Ein Bild.
Wir setzen das Leben gleich mit einer fremden Welt, deren Anfang und Ende niemand je gesehen hat. Wenn sich irgendwann nach der Geburt die Selbsterkenntnis einstellt, findet man sich auf einer Waldlichtung vor. Die Lichtung ist entweder klein und voller Gestrüpp oder groß und gut bewirtschaftet, je nachdem, was die Vorfahren dort geleistet haben. Doch irgendwann verlässt der junge Mensch die angestammte Lichtung und schlägt sich in die Büsche, mal freiwillig, mal gezwungener Maßen. Er will oder muss seinen eigenen Weg gehen.

Von den Bären
Kanadas wird berichtet, dass sie über Generationen hinweg dieselben Pfade durch den Wald benutzen und dabei sorgsam in die Fußstapfen ihrer Vorfahren treten. Das ist eine probate Weise voranzukommen, denn so nutzen sie die Kenntnisse und Erfahrungen ihrer Vorgänger, allein aus dem Lesen ihrer Spuren. Der Mensch im Naturzustand macht es ebenso, doch er muss nicht exakt die Fußstapfen der Alten nehmen, denn sie haben ihm ihre Erfahrungen und Kenntnisse nicht nur durch Tritte, sondern auch mittels Sprache beigebracht, meist in Form von Liedern, weil sie sich besser einprägen. Dieses tradierte Wissen hilft dem Menschen eines Naturvolkes, seine Welt zu lesen und für seine Zwecke zu deuten.

Der Wald des Lebens in unseren Breiten ist nicht überall unwegsam. Er ist mit Lichtungen übersät, von vielen Pfaden, Wegen und Straßen durchzogen und mit unzähligen Wegweisern versehen. Ständig kommen neue Wegstrecken hinzu und manchmal werden sie verlegt oder überwuchern, wenn keiner sie mehr geht. Wer reich und mächtig ist, hat prächtige Alleen, auf denen er per Kutsche fahren, sich per Sänfte oder gar auf den Händen anderer tragen lassen kann. Besonders seitlich dieser Alleen liegt viel Gestrüpp, das beim Anlegen und bei der Pflege anfällt. Deshalb können Unbefugte solche Alleen selten für sich nutzen, denn das Gestrüpp, das sie begrenzt, ist fast überall unüberwindlich.

Allgemein zugänglich sind die Straßen und Wege der Heilslehren und Religionen. Es kann dir sogar passieren, dass dich zwei junge Männer mitten im Wildwuchs des Lebens ansprechen und dich auf ihre bequeme Straße komplimentieren wollen. Folge ihnen, wenn du deinen Weg nicht mehr selber finden willst. Manche bieten dir derart bequeme Straßen an, da brauchst du deinen Kopf nur noch, damit es dir nicht in den Hals regnet.

Wenn du jedoch
anders gestrickt bist und dir deinen eigenen Weg suchen willst, auf dem du schön und gut vorankommst, dann brauchst du ein bisschen Geschick, Erfahrung und Kenntnisse. Doch das Wichtigste ist, du musst die Natur des Lebens lesen lernen. Denn es hilft nichts, sich einen Kompass zu nehmen und nach Marschzahl loszulaufen. Der Wildwuchs des Lebens verlegt dir bald den Weg. Du verhakst dich in Dornen, du fällst über knorrige Wurzeln, du triffst auf fremde Lichtungen, wo man dich nicht haben will, du stehst machtlos da, weil dir ein Mächtigerer als du den Weg verlegt hat, da gibt es Sümpfe, Klippen, steile Abhänge, unergründlich tiefe Schluchten. Ja, und du kannst dich in Gebiete verlaufen, in denen du völlig auf dich gestellt bist, wo kein Wegweiser die Nähe anderer Menschen verheißt. Dann kann es dir geschehen, dass du jede Richtung verlierst und dich jahrelang im Kreis bewegst, wenn du nicht am unerquicklichen Boden hockst, weil dir die Einsamkeit den Mumm geraubt hat. Und nicht zuletzt können andere dich in die Irre führen, absichtlich oder unbedacht. Sie können dich vereinnahmen und du schließt dich ihnen an, obwohl sie selbst nicht wissen wohin. Die Gefahr ist groß, denn auch Menschen auf schlechten Wegen suchen nach Weggefährten.

Es ist gut, sich zu Guten zu gesellen, ein Rat des Balthasar Gracian, der die von Schopenhauer übersetzte „Kunst der Weltklugheit“ geschrieben hat. Doch bevor du den oder die guten Weggefährten findest, musst du auch allein zurechtkommen, also lies einmal die Natur des Lebens.

Die Grammatik ist
einfach, der Wortschatz ist leichtfasslich. Der Mensch ist auf rasche Entscheidungen hin angelegt. „Geschwindigkeit geht vor Genauigkeit.“ Nur so kann das menschliche Gehirn die ständig wechselnde Fülle der inneren und äußeren Wahrnehmungen bewältigen. Das Leben wimmelt nämlich, es ist Chaos. Doch in diesem Chaos lassen sich Wege anlegen und Wege finden, denn überall finden sich natürliche Wegweiser. Der Schlüssel für sie ist die Genauigkeit. Manchmal muss man schnell reagieren und hat keine Zeit, sie zu beachten, besonders in so raschen Zeiten wie heute. Doch wo immer es möglich ist, da schaue man in Ruhe um sich ...

In diesem Text
hier ist Zeit. Ich habe ihn heute Morgen während einer Omnibusfahrt zu schreiben begonnen. Während ich schrieb, rumpelte der Omnibus eine Weile über eine Baustellenstraße. Da entgleiste mir mein Stift, und deshalb musste ich eine Pause beim Schreiben einlegen. Das gab mir Gelegenheit darüber nachdenken, wohin der Text eigentlich führen soll. Und so brachte die unruhige Fahrt Langsamkeit in mein Denken. Da war Zeit, sich umzuschauen. Auf solche Wegweiser des Lebens achte ich, wenn ich kann. Sie sind nicht von einer höheren Macht geschickt, die mir etwas zeigen will. Solche Ideen verfolgen die Pilger auf den Prachtstraßen der Religionen und verschlungenen Pfaden der Heilslehren. Nein, diese Zeichen haben eigentlich gar nichts mit mir zu tun. Haben sich etwa seit fünf Jahren unzählige Fachleute damit beschäftigt, die Straße zu sanieren, damit ich just heute eine Botschaft des Lebens bekomme? Bitte, das ist doch Quatsch.

Zurück wurde ich mit einem Personenkraftwagen gefahren; ich ließ mich vor der Innenstadt absetzen und bummelte quer hindurch nach Hause. Unterwegs war ich in einem Café, musste lange auf meine Bestellung warten, saß noch rauchend auf dem Markt, schaute aufs eingerüstete Rathaus, und dabei dachte ich immer wieder an diesen Text. Eben habe ich ihn geschrieben und ganz anders gemacht, als ich ihn im Omnibus begonnen hatte. Auf diese Weise ist er in Ruhe gewachsen, und er ist anschaulicher und genauer als am Anfang. Dieses Beispiel lässt sich auf alle Lebensbereiche übertragen.

Die Dinge brauchen Zeit und Hinwendung. Die Zeit muss der Mensch sich nehmen, zur Hinwendung muss er sich häufig zwingen. Wo dir das Leben ein kleines oder großes Hindernis in den Weg stellt, da achte das Hindernis als Zeichen. Halt mal an, schaue dich um und finde heraus, in welche Richtung es weiter gehen kann.

Das ist die kleine Kunst, das Leben zu lesen und gut voranzukommen.

Guten Abend

Kopfkino
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Sonntagstour über die Grenze

Schaufenster einer Druckerei in Vaals
Der Ansager und ein versehentlich gespiegelter Zuhörer

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Der Mann in der Tankstelle gab mir eben für die Sonntagszeitung auf fünfzig Euro heraus und hat mir das Wechselgeld bis fünfzik vorgezählt. Er ist neu hinter der Kasse, bestimmt ein Aachener. Hochdeutsch ist „fünfzik“ nicht. Das Suffix –ig wird weich gesprochen. Dialektsprecher im Rheinland übertreiben manchmal, wenn sie Hochdeutsch sprechen. Die Sprachwissenschaft nennt solche Erscheinungen hyperkorrekt. In der Vergangenheit wurde dann zum Beispiel aus dem Nachnamen Stüttchen das feiner klingende Stüttgen. Hör mal, wir sind noch gar nicht richtig losgefahren, und schon komme ich vom Thema ab. Das kann ja heiter werden. Übrigens verzeichnet der Duden schon die häufig vorkommende Aussprache „fümfzich“. Diese Aussprache ist nicht hyperkorrekt sondern lippenfaul, denn „fümfzich“ ist einfacher zu sprechen als „fünfzich“. Ach, komm lass mich auch mal über Belanglosigkeiten reden. Heute ist schließlich Sonntag.

Zuerst radeln wir durch den Westpark. Glauben die Leute noch nicht so recht an das sonnige Wetter? Eigentlich müssten sich die Sonnenhungrigen schon auf der Liegewiese ausbreiten. Sie ist bei den Studenten aus dem Hochschulviertel sehr beliebt. Klar, du hast Recht, die liegen noch im Bett, garantiert. Auf der Bankgruppe beim Weiher lagern die Russen. Sie sind Tag und Nacht hier, gucken auf den Weg und lassen den Fusel kreisen. Das waren vielleicht mal in Russland ehrenwerte Männer, die ihr Glück im Westen versuchen wollten, um ihren Familien etwas Gutes zu tun. Und dann gab’s hier keine Arbeit. Wir fahren links am Weiher vorbei. Um die Russen wabert immer ein Hauch von Schwermut. Da möchte ich dich nicht durchfahren lassen. Außerdem ist da zuviel Schatten. Seltsam, die Russen setzen sich nie in die Sonne.

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Weiter gehts nebenan
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