Kopfkino

Unter dem Westwind - in fünf Etappen

Unter dem Westwind

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Was wohl so ein mächtiger Baum empfindet, wenn er wüst vom Wind gezaust wird? Ob ein angenehmer Schauer den Stamm hinunterrauscht, wenn seine Blätter in den heftigen Böen flattern? Wenn meine Haare fliegen, rieselt es mir jedenfalls fein ins Mark, und heute flogen meine Löschen ordentlich, als ich mit dem Rad die Turmstraße hochfuhr. Wind, Wetter und jagende Wolken übers Himmelsblau als wäre über Nacht die Nordsee herangerückt. Tatsächlich schwappten vor Jahrmillionen hier die Wellen eines flachen Meeres ans Ufer. Wir fahren übrigens in die Niederlande, wo man sich der Tatsache durchaus bewusst ist, dass der blanke Hans einmal in Raserei geraten könnte, um sich das Land zurückzuholen, das man ihm abgenommen hat. Warte, wenn wir die Kuppe beim Langen Turm genommen haben, dann reden wir weiter.

Gleich rollen wir auf
einer breiten Brücke über das Gleissystem des nahen Westbahnhofs und haben einen schönen Blick auf den Kessel der Stadt. Das Licht fliegt über Häuser und Dächer wie sinnbildhaft fürs Leben. Mal hat der Mensch dort unten Sonne, mal hat er Schatten. Und tatsächlich geht es demokratisch zu, denn die Natur macht keinen Unterschied zwischen Nobelviertel und Armenhaus. Am Horizont ist der Höhenzug der Nordeifel zu sehen. Die Farbluftperspektive macht aus dem Wechsel des Lichts ein blaues dunstiges Einerlei. Doch das ist nur der beschränkten menschlichen Wahrnehmung zuzuschreiben. Was der Mensch von weitem besieht, versteht er nicht. Da mag er noch so schöne Theorien bedenken. Erkenntnis und innere Gewissheit ist uns nur in der Nähe beschieden. Und auch hier taugen die meisten Theorien nichts. Sie verstellen nur den Blick, weil sie grob vereinfachen, damit die immense Vielfalt des Lebens in die kleine menschliche Birne passt. Für die innere Gewissheit braucht man einen wachen Verstand, ein offenes Herz und den Austausch mit Menschen, von denen man sich etwas abgucken kann.
Fortsetzung nebenan
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Kleine Portale - große Welten

Eben bekam ich Lust, das Wort reziprok einmal zu benutzen. Reziprok bedeutet wechselseitig, aufeinander bezüglich. Als ich noch Tagebuch schrieb, ist mir irgendwann aufgefallen, dass die Ereignisse sich negativ reziprok zu ihrer Darstellung im Tagebuch verhalten. Anders gesagt, wenn ich viel erlebte, stand wenig im Tagebuch und umgekehrt. Schon die Gewissheit, dass da viel zu schreiben wäre, hat mich davon abgehalten, es auch wirklich aufzuschreiben. In ruhigen Lebensphasen dagegen waren die Einträge vielfältiger und lebendiger als das Leben selbst.

Es ist vermutlich leichter, sich einer kleinen Sache zu widmen, sie nah und näher zu betrachten, sie zu drehen und zu wenden, ins Gegenteil zu verkehren, ihre Determinanten zu untersuchen oder sonst wie mit ihr zu spielen, als hastig über viele Ereignisse hinwegzugehen in dem Bewusstsein, da wäre ja so Vieles zu erfassen und festzuhalten.

Das Leben selbst verhält sich umgekehrt reziprok zu seiner geistigen Verarbeitung, woraus folgt, dass ein allzu lebendiges, rauschhaftes Dasein etwas rasend Oberflächliches hat, das zu bewerten und zu verarbeiten der Mensch kaum im Stande ist, so dass er sich einem Naturzustand der Debilität annähert.

Allzu viel ist ungesundEin pralles oder durchweg flüchtiges Leben können nur jene führen, die für die Besorgungen des Alltags fleißige Dienstboten und gute Geister haben, sich also alle notwendigen Hilfsdienste kaufen können, so dass sie selbst nur wenige Qualifikationen benötigen und ihre Talente auch nicht trainieren müssen, bis auf das Talent, andere für die eigenen Zwecke einzuspannen oder das Talent einer einzigen Profession. Viele dieser Personen erleben irgendwann eine Krise. Plötzlich wird das rauschhafte Leben als leer empfunden, woraus sich der Zwang ergibt, doch einmal innezuhalten und zu schauen, welchem Teilbereich des Daseins man sich sinnvoll widmen könnte. Der Millionenerbe und Berufsplayboy Gunter Sachs begann im Alter zu fotografieren. Seine Ex-Ehefrau Brigitte Bardot engagierte sich für den Tierschutz, bevor sie sich den Rechtsradikalen des Le Pen zuwandte. Auch die griechische Sängerin Melina Mercouri ging in die Politik, desgleichen der italienische Pornostar Cicciolina. Die deutsche Sängerin Nina Hagen versenkte sich in Esoterik, die Schauspielerin Marianna Koch studierte Medizin - um nur einige Beispiele zu nennen. Wer den Absprung zu spät oder gar nicht findet, dem droht ein Ende als Alkoholiker, der Drogentod oder er wird irgendwann mumifiziert in der einsamen Wohnung aufgefunden.

Eigentlich wollte ich ja nur das Wort reziprok einmal verwenden. Die große Menschheitsfrage, was Glück ist und wie man es findet, lässt sich leicht beantworten. Im jeweiligen Leben muss ein ausgewogenes reziprokes Verhältnis zwischen Eile und Weile bestehen, so dass man sowohl rauschhaft mitfließen kann im Strom der Zeit wie auch innehalten, behandeln und betrachten, und das mit Herz, Hand und Verstand. Die Betrachtung benötigt keine besonderen Zielobjekte. Ein wenig Hinwendung macht selbst aus kleinen Dingen Portale zu eigenen Welten. Es reicht eine kleine Sache wie das Wörtchen reziprok.

Schönen Sonntag
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