Fernblick auf die nur unscharf berechenbaren Randzonen

Der Schriftgestalter und Typograph Adrian Frutiger hat versucht, eine Elementarform der besten Leserlichkeit zu finden, indem er die meistgelesenen Textschriften der Welt übereinander legte. Diese Elementarform ist zu sehen, wo sich die verschiedenen Schrifttypen überschneiden. Man könnte auch sagen, dass die Schnittmenge des Beispielbuchstabens ein idealtypisches kleines a zeigt.
Frutigers-Elementarform

Das Verfahren ist nebenbei mit
Skepsis zu betrachten. Die Methode ist rückwärtsgewandt, denn sie kann keine Ergebnisse bringen, die über die besten bereits gefundenen Formen hinausgehen. Wenn man jedoch dieses Verfahren auf den Menschen anlegt, wenn man also die gerasterten Silhouetten aller derzeit lebenden Menschen übereinander legen würde, bekäme man einerseits die typische Form, andererseits eine Vorstellung von den augenblicklichen Grenzen des Menschen. Zumindest für unsere Breiten gilt, dass der typische Mensch keine ideale Form hat, denn er ist ja nicht Mager oder Halbfett, sondern irgendwie Fett.

Interessanter als die Überlappungen sind die Grenzbereiche. Denn sie sind viel größer als beim idealtypischen Buchstaben. Und zu den Rändern hin hätte die Grafik der menschlichen Grenzbereiche nur wenige, besonders extreme Erscheinungen. Denn die individuellen Abweichungen von der Elementarform sind schier unendlich vielfältig. Eingegrenzt wird die menschliche Form nur vom biologisch Unmöglichen.
Menschenschnittmenge


Anders verhält es
sich mit dem inneren Menschen. Er lässt sich nicht so einfach grafisch darstellen. Wir haben lediglich eine vage Vorstellung davon, wie der ideale innere Mensch unseres Kulturkreises oder unserer sozialen Gruppe aussehen sollte. Der Einzelne versucht seiner Idealvorstellung zu entsprechen, begrenzt sich selbst so gut es geht, und auch die Gemeinschaft gibt Grenzen vor; sie bestimmt das Schickliche und gibt sich Gesetze. Doch wie sehen die Grenzbereiche der Fähigkeiten, des Wissens, der Moral und der Gefühle aus, die der Einzelne nicht unbedingt offenbart? Über welche Möglichkeiten das Individuum verfügt, wenn es sich den Übertritt in Grenzbereiche des menschlichen Daseins gestattet, können wir uns kaum ausmalen. Nicht einmal die eigenen Grenzbereiche kann man sicher bestimmen, denn je weiter man sich nach außen bewegt, umso unübersichtlicher, schwieriger und unwegsamer wird das Gelände.

Täglich hören wir von
Taten und Leistungen, die unser bisheriges Vorstellungsvermögen überschreiten. Doch haben wir davon Kenntnis, wissen wir, dass sie dem Bereich des Menschenmöglichen einverleibt wurden und erwägen, was das für uns bedeutet. Er habe noch nie von einem Verbrechen gehört, von dem er sich nicht vorstellen könnte, es selbst zu begehen, sagt Goethe. Dabei geht es um die Einsicht, dass der Mensch ein Tier ist, das sich eine dünne Schminke Kultur aufgelegt hat. In der Tat sind die von Mitgefühl, Moral und Gesetzen festgelegten Grenzen wie aufweichende Dämme. Unter dem Andrang egoistischer Absichten können sie nachgeben. Zudem neigt besonders der überinformierte Mensch der heutigen Zeit dazu, seine Grenzen immer weiter nach außen zu verlegen. Jeder Verstoß, jede Verrücktheit, jede Ungeheuerlichkeit, jede unglaubliche Leistung, von der wir Kenntnis erhalten, ermuntert, die eigenen Grenzen ebenfalls auszudehnen. Mit anderen Worten: Die Elementarfigur des inneren Menschen wird immer feister und schwammiger. Sie war schon zuvor nicht hübsch anzusehen. Betrachtet man die gewalttätige Menschheitsgeschichte, dann ist die menschliche Elementarfigur psychopathisch.

Wie die menschliche Elementarfigur auszusehen hat, bestimmt nicht allein die Gesellschaft. Sie wird ja wesentlich gestaltet von den Lebensbedingungen, den Ereignissen und den Alphatieren. Die Anführer, neudeutsch „Leistungsträger“ legen ihre eigenen Grenzen außerhalb der aktuellen Schnittmenge fest, und haben sie sich genügend gesellschaftliche Macht angeeignet, bestimmen sie die Verhältnisse innerhalb der Grenzen, wozu sie die anderen auf Abstand halten und einengen. Da es viele Alphatiere mit unterschiedlichen Interessen und Absichten gibt, kriegt die Figur des inneren Menschen überall Ausbuchtungen, hässliche Beulen und Verwachsungen. Es fehlt eben eine allgemein gültige Vorstellung, wie der Mensch aus guten Gründen zu sein hat. Doch sie fehlt nicht, weil es etwa keine vernünftigen Vorstellungen gibt. Sie fehlt, weil sich im Zuge des vorschreitenden Individualismus und der geistiger Trägheit immer weniger dafür interessieren. So zeigt sich der typische Mensch immer unförmiger. Wir brauchen natürlich weiterhin Alphatiere, die uns den Weg weisen. Sie werden hervorgebracht durch den Prozess der gesellschaftlichen Starbildung. Dieser Prozess bringt immer die gerade passenden Typen hervor, in unserem Fall solche, die den Individualismus, den Egoismus und die geistige Trägheit bis an die Grenzen und darüber hinaus treiben.

Lässt sich
irgendetwas daraus herleiten, was für den Alltag von Belang ist? Das weiß ich grad mal nicht. Die Welt und das schwüle Wetter machen mich ganz müd.
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Teppichhauslexikon - Straßenweisheiten

Drei Jungen unterhalten sich lauthals, queren die Fahrbahn und laufen mir fast ins Rad. „strassen weisheiten!“ ruft einer und dann noch einmal mit Nachdruck: „strassen weisheiten!“ Welche Straßenweisheiten? Was besagen sie, wozu sind sie gut? Sichern sie das Überleben auf der Straße? Wie kommt es dann, dass ich den Jungen beinah umgefahren hätte? Ihm ging es offenbar nicht um Verkehrsregeln. Was also sind Straßenweisheiten? Eine kurze Internetrecherche zeigt unterschiedliche Bedeutungen. Auf einer Mallorca-Ratgeberseite steht:
1) „Sie bevorzugen lieber Inselerkundungen mit dem Mietwagen, dann hier ein paar Straßen-Weisheiten.
* Hupen ist kein Drängeln, es bedeutet nur "Hey, ich bin hinter Dir, tue nichts unüberlegtes".
* Das mitten auf der Straße anhalten und mit Bekannten unterhalten ist "normal". Haben Sie eine Minute Geduld, dann fangen Sie an zu hupen. Sollten Sie vorher hupen, kann es sein, dass das Gespräch noch länger dauern wird.
* Blinken ist hier nicht so IN, meistens tun die Mallorquiner das nicht. Grund: Geht ja niemanden was an, wo sie hin wollen.“
Weitere Belegstellen aus dem Internet lassen jedoch vermuten, dass das Wort dem Sinnbereich der Gangsta-Rapkultur entstammt:
2) „Hatebreed sind in dieser Beziehung bei weitem auch keine Waisenknaben, jedoch machen sie keinen auf Gangsta, der ohne seine Knarre keine zwei Minuten in seinem Viertel überleben kann, sondern knallen einem einfach simple Straßen-Weisheiten um die Ohren.“
3) „Commandant Und Zerstörer DonCuz und Black Jack der Gunowe erteilen unterricht mit strassen weisheiten; alles wird gebangt Aachen City Gang Bang“
Im Duden steht „Straßenweisheiten“ nicht. Es ist offenbar noch ein Wort der Straße, und so differiert auch seine Schreibweise: Straßenweisheiten, Straßen-Weisheiten, strassen weisheiten. „strassen weisheiten“ verstößt am stärksten gegen die Orthographieregeln, und daher passt es zu den speziellen Sitten der Straße in Vierteln, die man als Fremder bei Nacht meiden sollte, wenn man nicht "gebangt" werden will. Bei der Schreibweise „Straßen-Weisheiten“ handelt es sich um ein Koppelwort. „Straße“ und „Weisheit“ stehen isoliert, vermutlich, weil sie naturgemäß nicht zusammengehören. Hier ist ein Bindestrich nötig, im Zitat 1) ist das der Ratgebertext. Wenn es hingegen besonders fein, feiner oder sogar "vom feinsten" zugehen soll, dann ist das orthographisch korrekte „Straßenweisheiten“ angebracht:
4) „Spaß, Humor, Satire und Comedy vom feinsten! Es gibt echt kein Thema zu dem "Die Helden der Mudderstadt" keine Meinung hätten. Das sind echte Straßenweisheiten gepaart mit der original Berliner Bauernschläue. Na da bin ick ja beruhigt, wa? Peilermann und Flow – schlimmer geht’s nimmer!“
StraßenweisheitNatürlich sind meine Ausführungen über Straßenweisheiten rein spekulativ. Vier Beispiele sind keine empirische Grundlage. Doch man kann daran sehen, dass es gut ist, verschiedene Schreibweisen eines Wortes zu haben, denn sie erlauben eine stilistische Bedeutungsdifferenzierung. Es gibt offenbar viele Straßenweisheiten, je nach Geltungsbereich. Straßenweisheit ist Insiderwissen. Es wird überwiegend mündlich weitergegeben. Soweit dieses Wissen sich nicht konkret auf den Straßenverkehr bezieht, entstammt es der Universität des Prekariats.
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Aus dem literarischen Untergrund - Kamelflöhe

Dies-ist-ein-StrafzettelDiesen Strafzettel fand ich am letzten Montag in der Gosse der Aachener Jakobstraße, wo er seinem Jargon gemäß gut gelegen hat.

Hui, dachte ich, wer den Zettel verfasst hat, dessen Kopf möchte ich lieber nicht haben. Die Diktion ist zu saftig und vor allem boshaft, und die atemlose und sinnfremde Aufzählung im 2. Absatz ist ziemlich skurril.
„20 Esel, 2 Elefanten, 1 Ziege und ein Trupp Liliputaner“ soll ja wohl keinen großen, sondern einen riesengroßen Parkplatz versinnbildlichen. Da hätten zwei Elefanten und zwanzig Esel dicke gereicht. Doch der unbekannte Verfasser quetscht noch „1 Ziege und einen Trupp Liliputaner“ mit rein. Das mutet kindlich an, denn Ziege und der Trupp Liliputaner benötigen ja so gut wie keinen Platz. Die Liliputaner könnten auf den Eseln sitzen, und die Ziege passt locker unter einen der Elefanten. Seltsam ist auch das Wort „naseweis“. Wer hätte schon jemals einem Falschparker entgegengeschleudert: „Sie sind aber naseweis, Sie!“ Naseweis ist ein Wort, das in ein kindliches Umfeld gehört. Zudem passt es inhaltlich nicht. Hier gibt mir der Duden „Die richtige Wortwahl“ recht: „naseweis: aus einer gewissen Selbstüberschätzung sich frech und vorwitzig um Angelegenheiten anderer kümmern.“ Dass sich ein Falschparker um die Angelegenheiten anderer kümmert, kann man nun wirklich nicht behaupten.

Die braun schillernde Fluchformel im Schlussabsatz hat etwas kindlich Analfixiertes und wirkt wie die Übersetzung eines arabischen Schimpfwortes. (Aber bitte keine Teppichhausfahnen verbrennen, weil ich angeblich arabische Fluchformeln kindlich-analfixiert genannt hätte. Es ist nur wegen der Kamelflöhe, die gibt’s hier nämlich nicht.) Kinder jedenfalls lieben absurde, schmutzige Sprachbilder, wie Peter Rühmkorf in seiner wunderbaren Sammlung von Sprüchen aus dem literarischen Untergrund Über das Volksvermögen gezeigt hat.

Nachdem ich die Fluchformel heute bei Google eingeben hatte, flogen mir die Arschlöcher und Kamelflöhe nur so um die Ohren. Der Spruch ist ungemein beliebt in Foren, und es gibt die Strafzettel in Elternforen, auf dem Kleinanzeigenmarkt, hier und hier, als PDF für den Selbstausdruck, als Wutzettel-Abreißblock für zwei Euro im Schreibwarenhandel und sogar im Kunsthandwerkerlädchen‚ in der Abteilung 'Rund ums Osterei/Ostereier' für den Wunschzettel, natürlich "auf hochwertigem Papier".

Im Forum „Unsoziales Parken“ gibt ein Master_Roam den Tipp: „du könntest z.B. beim Metzger ein Schweinegehirn kaufen. Nachts im Winter wenn es friert nimmst dus mit raus(darf vorher nicht gefroren sein) und legst es ihr auf die Motorhaube. Bis zum nächsten Tag ist das am Auto festgefroren. Das ist ein schöner Anblick^^ und sie kriegts erstmal nicht ab. der Vorteil : Es ist keine Sachbeschädigung, sprich Spiegel, Kratzer, Platte etc. und man kann dich nicht anzeigen, sollte sie Verdacht schöpfen, es sei auf deinem Mist gewachsen.“
Treponema antwortet mit einer Variante des Strafzettels und fügt das fäkale P.S. an: "Wenn Sie noch einmal so blöd parken, dann scheiße ich Ihnen auf die Motorhaube!"

Das alles wirft ein seltsames Licht auf die geistige Verfassung unserer Automobilgesellschaft.
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Einladung zum 2. Literatur-Experiment

Einladung01

Informationen und Texte zum 1. Literatur-Experiment hier.
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Unnötig groBer Rucksack - Eszett wurde aufgepumpt

Vor Jahren stand ich einmal in einem Baumarkt und fragte mich, was wohl eine FuBluftpumpe so alles kann, zumal ich nicht wusste, was ein aufpumpbares FuB überhaupt ist. Die Abbildung auf der Verpackung ließ jedoch vermuten, dass sich im Karton eine Fußluftpumpe befand, die vermutlich in China hergestellt worden war, wo man das deutsche Eszett nicht kennt. Und sie war auch nicht dazu gedacht, einen Fuß aufzupumpen, sondern konnte mit dem Fuß betätigt werden. Hier war dem ausländischen Hersteller allerdings eine tadellose Neubildung aus "Fuß" und "Hub" gelungen. So produktiv kann ein Druckfehler sein.

Das Eszett ist in jungen Jahren ein Doppel-S gewesen. In der damals verwendeten Frakturschrift gibt es zwei verschiedene Formen des „s“, ein langes (es sieht fast wie ein kleines f aus) und ein rundes. Man hatte das aus eugraphischen Gründen, weil es schöner aussah. Trafen nun zwei s an der Silbengrenze zusammen, dann nahm man das lange s für den Schluss der ersten Silbe, das runde für den Beginn der zweiten. Heraus kam die Ligatur „ß“, auch „scharfes S“ oder „Rucksack-S“ genannt.
Ligaturen sind zwei Buchstaben, die in der Bleizeit zusammen auf einen Kegel gegossen waren, weil sie in der Orthographie häufig zusammen auftreten. Ligaturen wie „ß“, „ch“ oder „ck“ erleichterten das Setzen mit der Hand, sie sparen einen Griff ein.
Irgendwann, als man noch Fraktur druckte und Kurrent schrieb, wurde das Eszett verlesen. Das heißt, man sah in den Resten des runden „s“ in der Ligatur ein „z“. Der Name Eszett für den Buchstaben „ß“ ist also ein volksetymologischer Irrtum. Das Eszett ist ein Kleinbuchstabe. Bei ausschließlicher Großschreibung von Wörtern oder Eigennamen wird es wieder zu dem, was es einmal war, dem Doppel-S. Um einer Verwechslung von Wörtern wie Masse oder Maße vorzubeugen, gilt bislang die Regel, „SZ“ oder „SS“ zu schreiben, also: „IN MASZEN GENOSSEN“ oder „IN MASSEN GENOSSEN“. Da solche Fälle eher selten auftreten und auch kein deutsches Wort mit einem „ß“ beginnt, erübrigt sich ein großes Eszett. Schwierigkeiten bereitete allerdings die Schreibung von Familiennamen wie „Eßer“ mit Großbuchstaben oder Kapitälchen.

Grosser-DudenIm Jahr 1960 erschien in Leipzig "Der große Duden" (Duden Ost) mit einem Fehler auf dem Buchtitel: DER GROßE DUDEN. Im Regelteil dieser Ausgabe steht:
„Das Schriftzeichen ß fehlt leider noch als Großbuchstabe.
Bemühungen, es zu schaffen, sind im Gange.“

Die falsche Schreibung "GROßE" war also der Versuch der Leipziger Dudenredaktion, die angeblichen Bemühungen um ein großes ß als Ergebnis vorwegzunehmen, - ein eigenmächtiger Eingriff in die amtlich festgelegte Schreibweise. Ähnlich arrogant verfuhr damals auch die Mannheimer Dudenredaktion (Duden West), indem sie der Stadt Cuxhaven die Eindeutschung „Kuxhaven“ verpasste (14. bis 16. Auflage), obwohl Städtenamen nicht den amtlichen Regeln unterliegen. Über Änderungen der Städtenamen entscheiden nur die jeweiligen Stadträte.

Dieses Recht nahm sich der Neußer Stadtrat am 21.11.1968 und beschloss die Änderung von "Neuß" in die Schreibweise "Neuss". Kurioser Weise gab ein Designkonzept den Anstoß: Der Werbegrafiker Herbert Dörnemann hatte ein Logo für die Stadt entworfen, das "Nüsser N". Es war aus fünf Kreisen konstruiert und entsprach damit den fünf Buchstaben von NEUSS in Majuskelschrift. In Groß- und Kleinschreibung hatte Neuß aber nur vier Buchstaben, was die Symmetrie des Entwurfes zerstört hätte. Mit einem 4-seitigen Schreibmaschinenskript "Zur Konzeption des einheitlichen Erscheinungsbildes der Stadt Neuss" gelang es Dörnemann, den Stadtrat auf seine Idee einzuschwören. Der Name der Stadt sollte in Schrift (Helvetica), Schreibweise (NEUSS, Neuss) und Logo (Nüsser N) nur noch einheitlich auftreten.

Der Neusser Stadtrat entledigte sich damit einer deutschen Schreibweise, die zur Hypothek geworden war. Für die Stadt mit großem Rheinhafen und wachsenden internationalen Geschäftsbeziehungen war das deutsche Eszett in "Neuß" eine zunehmende Belastung. Wie sollten denn die ausländischen Handelspartner den Namen der Stadt korrekt schreiben, wo doch das "ß" im Typenvorrat der Schreibmaschinen und Setzkästen anderer Länder fehlte? Manche fanden die elegant wirkende Lösung, ein kleines griechisches Beta zu setzen, andere schrieben grob "NeuB", da dem "ß" nicht anzusehen ist, dass es einen scharfen S-Laut wiedergibt. So taten die Neusser dem Ausland und sich selbst einen Gefallen. Denn nach Auskunft der Neusser Stadtverwaltung haben auch die Neusser Bürger die "neue Schreibweise der Stadt Neuss mit zwei 's'" "schnell", "dankbar" und "froh" aufgenommen. So einfach kann man eine Orthographiereform machen und die Bürger dankbar froh stimmen, - wenn geschäftliche Interessen vorliegen.

Mit der jüngsten Orthographiereform ist das „ß“ in Bedrängnis geraten. Zu einer radikalen Tilgung des Buchstabens konnte sich die Reform-Kommission nicht durchringen, obwohl es den Schweizer Vertretern gewiss gefallen hätte, denn in der Schweiz wird das Eszett nicht verwendet und offenbar auch nicht vermisst. Die neuen Regeln sehen bei vielen Wörtern, die lange Zeit mit ß geschrieben wurden, das Doppel-s vor. In Texten fällt besonders die neue Schreibung der Gliedsatzkonjunktion „dass“ auf. Über die weitere Verwendung des „ß“ herrscht große Unsicherheit, und es wird auch dort getilgt, wo es eigentlich noch geschrieben werden sollte. So sieht man oft die falsche Schreibweisen „Grüsse“ oder „heissen“, obwohl die Regel besagt, dass nach langem Vokal und Diphthong weiterhin Eszett geschrieben werden soll, also „Grüße“ und „heißen“.

Im Juni 2008 frohlockte der TAGESSPIEGEL: "Die letzte Lücke im deutschen Alphabet ist geschlossen - zumindest technisch. Das ß gibt es nun auch als Großbuchstaben erstmals verankert in den internationalen Zeichensätzen ISO-10646 und Unicode 5.1. Es hat dort den Platz mit der Bezeichnung 1E9E. Das bestätigten das Deutsche Institut für Normung (DIN) und die Internationale Organisation für Normung (ISO). Die Änderung werde in Kürze veröffentlicht, sagte ein ISO-Sprecher. Damit hatte ein Antrag der DIN-Leute, eine Norm für das große ß zu schaffen, teilweise Erfolg."

Das rätselhafte Vorpreschen des Deutschen Instituts für Normung ist wohl primär eine sprachpflegerische Maßnahme, um das vermeintlich bedrohte ß zu retten. Wie alle sprachpflegerischen Bemühungen ist auch eine DIN-Norm für das große Eszett unsinnig. Es verstößt gegen die amtlichen Orthographieregeln und findet vor allem keine Entsprechung im Typenvorrat der verbreiteten Schriftfonts, für die es ja erst noch geschaffen werden müsste. Vielleicht werden unterbeschäftigte Typographen das tun, zumindest für Schriften mit Kapitälchen. Trotzdem wäre Herr Eßer nicht gut beraten, seine Visitenkarte mit einem großen Eszett setzen zu lassen. Es könnte ihm dann passieren, dass ihn ausländische Geschäftspartner erst recht mit "Herr Eber" begrüßen.
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Ein Mann findet plötzlich die Weltformel

Gleich-die-WeltformelDer Regional-Express von Dortmund nach Aachen hat Verspätung, und daher sind unterwegs auch all jene eingestiegen, die eigentlich erst mit dem nächsten hatten fahren wollen. Der Zug ist überfüllt. Ich kann mich an meinem Fensterplatz der Vierersitzgruppe nicht bewegen, denn schräg gegenüber hat sich eine wirklich dicke junge Frau niedergelassen und scheint unter dem Ruckeln und Zuckeln der Bahn wie Brei zu zerfließen. Jedenfalls wird sie immer breiter, touchiert beständig mein Knie, und so sehr ich mich auch bescheide, ihr Knie folgt meinem Knie nach, um es warm und feucht zu herzen.

Mir gegenüber, also
direkt neben der Dicken sitzt ein Inder, und der wird vor meinen Augen langsam an die Fensterwandung gequetscht, weshalb er schnappt wie ein Fisch auf den Planken eines Kutters. Zum Glück sind diese Leute leidensfähig. Rettung ist nicht in Sicht, denn selbst wenn wir uns der fetten Frau entringen könnten, auf dem Gang ist kein Durchkommen. So sehne ich den Ort Düren herbei, der es eigentlich wirklich nur verdient, weil die dicke Frau ihrer Freundin rechts von mir erklärt hat, welche Stationen noch anstehen, bis man in Düren aussteigen werde.

Ach, und es sind noch so schrecklich viele. Die dicke Frau sagt, sie werde in Düren zuerst was essen, doch zum „Selberkochen“ habe sie keine Lust, sie sei ja nicht blöd. Ich vermute schon, dass sie alles isst, was groß und dick macht; da sagt sie, sie werde einen Döner essen (oder fünf?), in einem Laden, der „schon recht luxuriös“ sei "für eine Dönerbude." Derweil plärrt ein Säugling, ringsum wird telefoniert oder man redet irgendwas dahin und durcheinander, und aus allen Richtungen zischt unerwünschte Ohrstöpselmusik. Sie soll ja eigentlich in die Köpfe der Verstöpselten hinein. Doch da just die besonders hohl und daher gute Resonanzkörper … Entschuldigung, der überfüllte Zug ist gar nicht unser Thema. Denn in Düren leert sich der Zug, die Dicke reißt in ihrem Kielwasser Säugling, Kinder, verstöpselte Jugendliche, Frauen und sogar gestandene Männer mit. Ich atme auf, schaue mich erleichtert um, und indem sich der Zug aus dem Dürener Bahnhof entfernt, kann ich sogar hören, was drei Sitze weiter auf der anderen Seite gesprochen wird. So erlebe ich das Aufstehen eines neuen Propheten.

Aufgestanden ist der hochgewachsene Prophet zwischen dem Bahnhof Rothe Erde und dem Aachener Hauptbahnhof, denn der Zug endet dort. Zuvor jedoch, als er noch kein Prophet war, hatte er sich mit einer etwa 50-jährigen attraktiven Frau unterhalten. Die Initiative ging ganz offenbar von ihr aus, und sie führte das Gespräch, indem sie die Themen vorgab. Der junge Mann war vermutlich Iraner, denn sie sprach mit ihm über den Schah von Persien und dass es sein großer Fehler gewesen sei, den Frauen das Tragen des Kopftuches zu verbieten. In der Folge beteuerten sie einander, dass man Toleranz walten lassen müsse, überall auf der Welt. Und so ging es hurtig hin und her, bis die Frau am Bahnhof Rothe Erde aussteigen musste. Da sagte sie ihm, schon halb im Gang: „Schön, dass wir uns getroffen haben. Und vielleicht sehen wir uns ja noch mal wieder, wenn Sie auch in Aachen wohnen!“ Da beeilte er sich zu versichern, dass er ganz genauso empfinde, und als ich hinüber sah, da schossen ihm gerade Aufregung und Freude rot in die Ohren. Und in dieser euphorischen Stimmung, kam ihm die Erleuchtung, allerdings nicht sofort, sondern eine kleine Weile nachdem sie ausgestiegen war.

Zwischen Aachen Rothe Erde und dem Hauptbahnhof rollt der dort endende Zug ganz langsam. Man hat einen schönen Blick über die Stadt bis hin zum Lousberg hinüber, ist dann plötzlich über Straßen, Häusern und Dächern, schaut in enge Hinterhöfe hinein und fährt dabei auf dem langen Burtscheider Viadukt, einem prächtigen Bauwerk von 1840 mit imposanten Stützpfeilern. Diese eindrucksvolle Szenerie, gepaart mit der freudigen Erwartung auf den Endbahnhof, hat etwas Erhebendes. Freilich ist es nicht ausgemacht, dass der junge Mann seine Umwelt überhaupt wahrnahm. Er war nämlich in aufgekratzter Stimmung und völlig von seinen Gefühlen eingenommen, sah also mehr nach innen als nach außen. Und da plötzlich brach es laut aus ihm heraus. Eine Frage: ...

… und eine Antwort. „In was für einer Welt leben wir eigentlich? Ist es etwa ein Alptraum oder ein Traum? Ich würde sagen: beides.“ Dann erhob er sich, stand auf als Prophet und ging den Gang hinunter, ein großer, hübscher Iraner. „Wenn ihr wüsstet!“, rief er im Gehen, „wenn ihr wüsstet!“, und zog davon. Gerne hätte ich ihn noch etwas gefragt, doch er verschwand leider sofort. Ich sah ihn nicht aussteigen, und auch auf dem Bahnsteig war er nicht. So mochte ich beinah glauben, dass der Mensch durch eine wie auch immer geartete Erleuchtung den Gesetzen der klassischen Physik entzogen wird und hinfort Dinge tun kann, die kein einfacher Mensch vermag.
Die Erleuchtung - Originaldokument
Die Erleuchtung, dass die Welt sowohl Traum wie auch Alptraum ist, lässt sich leider nicht einfach auf einen anderen übertragen. Denn Erleuchtungen sind individuell, man kann sie nicht erlernen oder übernehmen. Deshalb könnte der neue Prophet zwar eine Religion gründen, doch der einzige Nutznießer wäre er selbst. Wer noch nie erleuchtet wurde, kann die Erleuchtung des Mannes nicht nachvollziehen, allenfalls logisch betrachten. In logischer Hinsicht sind Frage und Antwort blanker Unsinn. Ebenso gut könnte man fragen und antworten: „Ist das Leben ein Schmalzkuchen oder ein Tapeziertisch? Es ist ein Schmalzkuchen auf einem Tapeziertisch.“ Sorry, ein Spaß. Ernsthaft: Die Frage: „Ist das Leben ein Alptraum oder ein Traum?“ beinhaltet eine logisch unerlaubte Einschränkung. Denn wer sagt denn, dass das Leben ein Traum ist? Wenn das Leben ein Traum ist, ist dann der nächtliche Traum ein Traum im Traum, ein Traum zweiter Ordnung? Und wer träumt diesen Traum? Träumt der träumende Prophet seinen und meinen Traum? Er hat mich doch gar nicht wahrgenommen und nicht gesehen, dass ich hinter seinem Rücken hinkritzelte, was er sagte, wozu ich eine Ecke vom Magazin der Süddeutschen Zeitung abrissen hatte. Und wirst auch du gerade vom Propheten geträumt? Hoffentlich nicht. Das wäre absurd, denn wer hat denn die Menschen geträumt, bevor der Prophet geboren wurde?

Die zweite Möglichkeit wäre, dass es einen göttlichen Träumer gibt, der alle Träume der Menschen träumt, sich aufgespalten hat in Milliarden Seelen. Ein aufgespaltener Gott aber, der sich selbst nicht mehr als Einheit erlebt, ist so gut wie gar kein Gott. Und wenn er kein Gott ist, kann er uns alle auch nicht träumen.

Ist gibt im Deutschen kein Antonym zum Sustantiv „Traum“. Ein solches Wort könnte beispielsweise „Wach“ lauten. Wach und Traum sind die beiden Erlebensbereiche des Menschen. Im Traum werden wir getan, im Wach tun wir mit Bedacht. Das Leben ist also nicht Traum oder Alptraum, sondern allenfalls Traumwelt und Wachwelt. Da die Frage "Ist das Leben ein Alptraum oder ein Traum?" unzulänglich ist, kann die Antwort nicht bestehen.

Vielleicht hat aber der Prophet etwas ganz anderes gemeint. Traum oder Alptraum sind Metaphern für sein Lebensgefühl in der Wachwelt. Angenommen, bei Reiseantritt sei ihm etwas wirklich Übles passiert, angenommen, ihm ist auf dem Bahnsteig des Kölner Hauptbahnhofs das Mobiltelefon hinunter gefallen. Und als er es ans Ohr hob, hat’s nicht mehr telefonieren wollen. Das wäre doch ein Alptraum. Da aber beschert ihm das Schicksal eine wunderbare Begegnung. Es taucht eine Frau in seinem Leben auf, nimmt ihn wahr und nimmt ernst, spricht mit ihm und hört ihm zu, zeigt ihm Sympathie und Wohlwollen. Was muss das für ein wunderbares, ja, traumhaftes Erlebnis gewesen sein.

Wer Licht wahrnehmen will, muss auch Schatten haben. Wo nur Licht ist, erkennst du nichts, weshalb die nah am Licht sich den Schatten holen, indem sie das Elend der unter ihnen betrachten. Wer jedoch eben noch in einem schattigen Alpdruck lebte, kann von einer schönen Begegnung in himmlisch lichte Sphären versetzt werden und einfach so aus dem Zugabteil verschwinden. Hören wir also nicht auf seine Worte. Worte sind nichts, das Gefühl ist alles, das sind die Worte des neuen Propheten.
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Vorläufige Stilllegung

Die einen nennen es Betriebsferien, die anderen die längste Mittagspause der Welt. Weiter ...
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Wenn auch die Lotsen verwirrt sind

„Aber Bloggen! Wozu die Menschen heutzutage Zeit finden!“, schrieb mir Thomas Gsella, damals Chefredakteur der satirischen Zeitschrift Titanic. Man kann von den Kollegen der Presse nicht erwarten, dass sie das neue Publikationsmedium Weblog freudig begrüßen. Sie reden es lieber klein. Schließlich rauben Blogs den Printmedien nachhaltig und zunehmend die Oberhoheit über die Ware Information und bedrohen Arbeitsplätze in den Redaktionen. Bis etwa zur Jahrtausendwende schien die Welt des professionellen Journalismus noch in Ordnung. Ausschließlich Redaktionen sichteten Informationen, wählten aus der Fülle des Angebots, erschlossenen Themen, nahmen Stellung, setzten Trends und bestimmten die öffentliche Diskussion. Es schien stets genau soviel zu passieren, wie gerade in die Zeitung, in die Wochenzeitschrift oder in die Tagesschau passte.

Die freie Presse ist das wichtigste Kontrollorgan einer Demokratie. Die Alliierten haben nach 1945 ein kluges System erdacht, wie den Deutschen Demokratie und eine Idee von Meinungsfreiheit beizubringen wäre. Die Lizenzen für Zeitungsgründungen wurden so vergeben, dass sich in den jeweiligen Verbreitungsgebieten eine linksliberale und eine rechtskonservative Zeitung gegenüberstanden, zum Beispiel: Aachener Nachrichten (linksliberal) - Aachener Volkszeitung (rechtskonservativ), Kölner Stadtanzeiger (linksliberal) – Kölnische Rundschau (rechtskonservativ), Frankfurter Rundschau (linksliberal) – Frankfurter Allgemeine Zeitung (rechtskonservativ). Diese Ordnung brachte eine lebendige politische Diskussion und hat die Entwicklung unserer Demokratie entscheidend geprägt.

Inzwischen sind in unserer Zeitungslandschaft nur noch Reste dieser Struktur zu sehen. Mit dem Ende der Bleizeit in den 70er Jahren gerieten viele Zeitungen in wirtschaftliche Probleme, gegen die man sich mit Zusammenschlüssen half. So fusionierten Aachener Nachrichten und Aachener Volkszeitung, gingen auf in einem gemeinsamen Zeitungsverlag, der wiederum seit 2007 in Teilen der Mediengruppe Rheinische Post gehört. In Köln ging es ähnlich zu. Die Verlagsgruppe M. DuMont Schauberg gibt seit 1999 zusätzlich zum linksliberalen Kölner Stadtanzeiger auch die konservative Kölnische Rundschau heraus. 2006 kaufte DuMont sich bei der angeschlagenen Frankfurter Rundschau ein. Diese Beispiele der bedenklichen Pressekonzentration in Deutschland lassen sich fortführen. Sie gehen mit einer inhaltlichen Nivellierung einher und kennzeichnen so den Abstieg eines stolzen und wichtigen Publikationsmediums.

Wer in der Buchkultur aufgewachsen ist und es sich leisten kann, nimmt noch allmorgendlich ein Zeitungsbad, wenn’s auch immer lauer wird, weil Journalisten zunehmend Rücksicht auf wirtschaftliche Zwänge nehmen. Den Kindern der Internetkultur ist die Zeitung zu lahm. Mit der überwältigenden Vielfalt der Internetangebote kann sie nicht konkurrieren. Dieser Autoritätsverlust der etablierten Medien ist nicht mehr umzukehren, solange das Internet besteht.

Der Medienphilosoph Vilém Flusser (* 12. Mai 1920 in Prag, † 27. November 1991) hat die Entwicklung schon Ende der 80er Jahre vorausgesehen. Er sah die Buchkultur im Abendrot versinken und eine „telematische“ Gesellschaft heraufziehen, deren wesentliches Merkmal die Entwertung der Schrift, die Aufwertung der Zahl und des technischen Bildes ist. Mit dem Entstehen der Internetkultur hat sich Flussers Idee konkretisiert. Sie hat Gestalt angenommen, obwohl sie gestaltlos ist, nulldimensional, wie Flusser sagt. In der von ihm beschriebenen telematischen Gesellschaft gibt es keine Autoritäten. Hier dominiert die Diskussion. Durch ihre Vernetzung lenkt die telematische Gesellschaft sich selbst, ist in Flussers Vorstellung ein „kosmisches Hirn“. Eine ähnlich positivistische Idee ist die der Schwarmintelligenz.

„Aber Bloggen“ - Gelegentlich fragt sich mancher Blogger, was er eigentlich macht. Wozu ist es gut, unentwegt Texte und Bilder zu publizieren, sollte man das nicht besser den Profis überlassen? Die Frage ist müßig, denn indem ein Medium zur Verfügung steht, wird es genutzt. Die Entscheidung des Einzelnen, ob er bloggt oder nicht, ist ohne Belang, solange die Zahl der Blogger weltweit zunimmt. Derzeit wissen viele Blogger noch nicht recht einzuschätzen, welches Werkzeug ihnen in die Hand gegeben wird. So geht es zu in den Anfängen eines Mediums, es gibt wenig Fachkenntnis, kaum Regeln und daher allgemeinen Wildwuchs. Ob sich hier tatsächlich etwas Ähnliches wie kollektive Intelligenz entwickelt, muss sich noch zeigen.

Das Internet hat unseren Alltag nachhaltig verändert. Es zeigt uns die ungeheure Komplexität der Welt und raubt uns die Begriffe. Und indem sich die Welt nicht mehr allein von Redaktionen gefiltert darbietet, reiben wir uns die Augen und erkennen, dass wir von allem, was wir sicher zu wissen glaubten, nur den Schein der Oberfläche kannten. Doch auch das Internet bietet nur Oberflächen, und schaut man dahinter, erscheint eine neue Oberfläche. Wir erkennen, dass ein jeder Gegenstand der Betrachtung einer Zwiebel gleicht, Schale über Schale. Das ist das Dilemma unserer globalisierten und überinformierten Welt. Niemand kann mehr alle Zusammenhänge überblicken oder gar begreifen. Das gilt auch für die einst so kundige Fährleute aus den Redaktionen. Und da selbst sie die Untiefen im Ozean der Informationen nicht mehr überblicken, verlegen sie sich zunehmend auf Meinungsmache, ein Trend, der sich in allen Zeitungen ablesen lässt. Die Stilformen der Zeitungen verwischen, viele Berichte, die einst nur die Information darbieten sollten, enthalten Meinungsanteile. In den 90ern hat die Frankfurter Rundschau ihre Leser noch typographisch auf solche Mischtexte aufmerksam gemacht. Man setzte die Überschrift kursiv, wenn der Bericht auch kommentierende Elemente enthielt. Diese typographische Achtungsbezeugung vor der Selbstbestimmung des Lesers wirkt zehn Jahre später nur noch altmodisch.

Die Fehlentwicklungen beim Printmedium bringen eine Abkopplung von Traditionen der Buchkultur. Damit beschleunigt es den eigenen Niedergang. Es liegt eben nicht nur an der Konkurrenz durch Blogs und anderen Erscheinungen des Internets, wenn unsere Zeitungslandschaft erodiert.

Flussers Idee der telematischen Gesellschaft ist eine Utopie. Und da sich Utopien nicht zu verwirklichen pflegen, dürfen wir auf das Entstehen von kollektiver Intelligenz nur hoffen. Vielleicht sind selbst Blogs eine vorübergehende Erscheinung, denn sie sind Zwitter, stehen mit einem Bein in der Buchkultur und tasten mit dem anderen in die Nulldimension des technischen Bildes. In diesem Sinne bilden sie auch eine Klammer und sorgen dafür, dass der Geist nicht gar so rasch im Internet-Orkus verschwindet. Man muss sich das Weltgeschehen als Rückkopplungsmodell vorstellen. Was an Information erzeugt wird, wirkt auf das Geschehen zurück und verändert es. So hat jeder, der sich eines Publikationsmediums bedient, seinen Anteil an der Gesamtentwicklung. Das ist ein guter Grund, eine Zeitung zu machen wie auch zu bloggen.
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