Ein Rheinländer in Hannover (1) – "Da nicht für!"

Hannoveraner sind höfliche Leute. Wenn dir in der Dunkelheit auf dem Bürgersteig eine Rotte Halbwüchsiger entgegenkommt, selbst dann musst du nicht vorsorglich die Straßenseite wechseln; sie stoppen ihre wüsten Gesten, belästigen dich nicht mit harten Worten, sondern verstummen, indem sie dir artig Platz machen. Eines Abends wollte ich verschneite Autos fotografieren. Auf dem Gehweg war nur ein schmaler Streifen geräumt. Da kam eine dunkle Gestalt mir entgegen und verharrte geduldig in der Kälte, bis ich mein Foto geknipst hatte. Ich sagte: „Dankeschön!“, aber die Gestalt sagte wegwerfend: „Ach! Da nicht für!“

Hannoveraner sind
freundlich, aber man kann es ihnen nicht wirklich recht machen. Du bist eingeladen, bedankst dich geflissentlich, und was kriegst du zu hören? „Da nicht für!“ Sofort hast du ein schlechtes Gewissen. Hätte man sich für etwas anderes bedanken müssen, für eine riesige, weltbewegende Sache, die einem zuteil wurde, aber man hat’s nicht gemerkt, ist einfach zu blöd?

„Da nicht für!“, nuschelte gestern einer der Moderatoren beim Poetry-Slam im Hannöverschen Kulturzentrum Faust in sein Mikrophon. Es hat mich beruhigt, dass auch Hannoveraner sich gegenseitig keinen Dank gönnen. Leider weiß ich nicht, was der Anlass für „Da nicht für!“ war, denn die Moderatoren Jan Egge Sedelies und Henning Chadde redeten unentwegt durcheinander. „Dankeschön, dass ich nix verstanden habe.“ „Ach, da nicht für!“ Thema des Slams war an diesem Abend was? „Hannover“. Neun Slammer traten an, und die meisten gaben sich redliche Mühe, die Stadt in den Dreck zu ziehen, was mich als Neubürger ziemlich verunsicherte. Sollte ich am Ende einen Knick in der Optik haben und Schönheit sehen, wo nur Beton ist? Schließlich befleißige ich mich, die Stadt in den höchsten Tönen zu loben, wann immer einer wissen will, warum ich ausgerechnet von Aachen nach Hannover und so.

Rathaus Hannover

Ja, Hannover hat auch Beton. In den 60er und 70er Jahren des letzten Jahrhunderts liebte man den architektonischen Stil des Brutalismus. Inzwischen wollen die Stadtväter den Beton aber loswerden, weshalb es in Hannover viele hartnäckige Baustellen gibt. An Beton hat sich eben schon mancher Bagger die Zähne ausgebissen. Bevor man mich rügt: Ich weiß, es gibt auch Stadtmütter, aber das zarte Geschlecht hatte es nie mit Beton, ausgenommen vielleicht Ursula von der Leyen. An ihre brutalistische Betonfrisur lässt sie keinen Abrissbagger, was wiederum beweist, wie sehr die Architektur die Menschen prägt und manchmal sogar härtet.

Zugegeben, das alles ist abschreckend, aber was hat beispielsweise Wanne-Eickel zu bieten? Doch offenbar nicht viel, aber hätte jemals einer aus Wanne den Beton seiner Stadt verflucht? Nein, der guckt einfach in den Himmel und besingt den Mond. Und sag mal leichthin, in Bielefeld wäre das Wegfahren am schönsten, dann kannst du dich aber warm anziehen. Monatelang haben mich Bielefelder deswegen beschimpft, und manche konnten sogar beinahe Hochdeutsch.

Es war voll im Faust, und wer zu spät kam, musste am Rand stehen. Zuletzt kam eine Blondine, verschmähte den Rand, platzierte sich gut gelaunt mitten im Raum und verstellte etwa 25 Leuten die Sicht auf die Bühne. Immerhin, wenn sie eitel mit dem Kopf wackelte, konnte ich durch ihre Haare gucken. In der Pause stand ich draußen bei den Rauchern. Da sagte einer: „Ich sehe nur den Rücken von so einer blöden Blondine im weißen T-Shirt.“ Darüber habe ich mich doch gewundert. Wenn er gleich hinter ihr saß, warum hat er sie nicht ermahnt? Das ist typisch für Hannoveraner; sie ertragen selbst Unverschämtheiten geduldig und murren nur, wenn sie glauben, unter sich zu sein.

Sinnbildhaft für diesen Untertanengeist ist eine wunderliche Sitte. Auf dem Bahnhofplatz steht das Reiterstandbild von König Ernst August I. Wenn sich Hannoveraner verabreden, dann am liebsten „Unter dem Schwanz“ seines Pferdes. Offenbar gefällt ihnen die Vorstellung, sich vom königlichen Ross bekötteln zu lassen. Als Ernst August noch lebte, hat man die Köttel nämlich gesammelt, um sich im Winter die Hände daran zu wärmen. Wenn der König durch die Stadt ritt und sein Pferd kötteln ließ, dann jubelten seine Untertanen: „Gott schütze den König!“ Und Ernst August I. antwortete generös: „Ach, da nich für!“
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Gott schütze Merkel - wünscht Volontär Schmock

Die Chance, von einem Meteoriten erschlagen zu werden, ist recht gering, wohl aber könnte man einen dicken Eisbrocken auf den Kopf kriegen. Heute Mittag gehe ich nichts ahnend die Straße lang, da löst sich einer polternd vom hohen Dach, sauste nieder und zerplatzte direkt neben mir auf dem Bürgersteig. Du lieber Herr Gesangsverein, dachte ich, so ein dicker Eisklumpen kann jedem den Schädel zertrümmern. Der macht keinen Unterschied zwischen arm oder reich, schwach oder mächtig. Mal angenommen, Angela Merkel würde von einem verirrten Eisbrocken erschlagen, dann wäre Guido Westerwelle augenblicklich unser Bundeskanzler. Ich würde Merkel persönlich in den Schneematsch schubsen, um das zu verhindern.

Bei diesem Wetter zeigen sich die Großstädte von ihrer hässlichsten Seite. Sieben Wochen mindestens haben die Hunde in den Schnee geschissen, weil’s den Hundebesitzern einfach zu kalt war, weiter als drei Meter zu gehen. Jetzt tauen die Schneehaufen weg und geben ein Meer von zerlaufenen Hundehaufen frei. - Tut mir leid, Frau Merkel, meine Schuld ist’s nicht, ich habe ja gar keinen Hund. - Zweimal sogar habe ich Hundebesitzer ermahnt, und beide gaben mir die erstaunliche Auskunft: „Ich wohne ja selbst hier.“ Vermutlich urinieren sie auch guten Gewissens ins Bett, aber nur, wenn es ihr eigenes ist.

Ach, wie schön, dass Boris Becker sich nicht mehr in fremden Betten wälzen muss. Kaum hat seine Liebste entbunden, will er ihr schon ein neues Kind machen, aber nicht, weil ihm das erste nicht gefällt, sondern als Zeichen seiner großen Liebe. „Sobald Lilly signalisiert, dass sie dazu bereit ist, steh ich Gewehr bei Fuß“, sagte Becker der Zeitschrift „Bunte“. Meine Herren, mir ist nichts Menschliches fremd; manchen erregt es vielleicht, wenn er neben dem Bett die Hacken zusammen schlägt und einen Gewehrkolben in die Auslegeware rammt. Aber eins ist sicher: So wurde noch keine Frau schwanger.
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Knapp am Tod vorbei - gefährliche Textbetrachtung

Aus dem Regal eines Supermarktes fischte ich eine Einkaufsliste. Jemand hatte sie zu den Plastiktüten unter dem Förderband gestopft. Solche Zettel sind alltagsethnologische Dokumente, geben Auskunft über Einkaufs- und Orthographiegewohnheiten und über den Zustand unserer Handschrift. Dieser hier trägt auf der Rückseite eine rätselhafte Botschaft: „manche mögen es schon kennen wiederum die die es nicht kennen werden sich Tod lahen“.

Tod-lachen

Zunächst fällt die
radikale Kleinschreibung auf, die allein beim Wort „Tod“ aufgegeben wurde. Auch „Tod lahen“ entspricht nicht der herkömmlichen Orthographie, es müsste nach alter wie neuer Rechtschreibung „totlachen“ heißen. Die Sonderstellung von „Tod“ wirkt bedrohlich. Das fehlende „c“ bei lachen und der Verzicht auf Punkte und Kommata verleihen der Botschaft etwas Atemloses. Trotzdem wurden die Zeilen nicht rasch geschrieben, wie etwa unter einem erstickten Lachanfall, denn die hübschen Buchstaben sind bis zuletzt sauber ausgeführt.

Die Einkaufsliste auf der Vorderseite ist mit Bleistift geschrieben, die Rückseite mit Kugelschreiber. Beide Aufschriften sind also zu unterschiedlichen Zeiten entstanden. Demnach ist der Schreiber noch einkaufen gegangen, nachdem er die unfertige Ankündigung verfasst hatte, anders als jene „wiederum“, die „es“ schon kennen. Wenn die Prophezeiung des Textes stimmt, müssen sie sich bereits in den Tod gelacht haben, liegen vermutlich glucksend in der Kiste und kriegen sich nicht mehr ein. Darauf verweist das Präsens, denn sonst müsste es heißen: „Manche kannten es schon.“

Den Grund für
deren Lachtod teilt der Schreiber nicht mit. Man mag das bedauern, doch die Unterschlagung des Anlasses ist ganz offenbar eine notwendige Sicherheitsmaßnahme. Nicht einmal der Schreiber hat gewagt, sein Wissen zu Papier zu bringen, und das erklärt auch, warum er selbst noch "Lambrusko 9% Rotwein" nach Hause tragen konnte. O Mensch, verlange nicht, "es" zu erfahren.
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Kaffeeplausch mit Frau Nettesheim - Richtig Klauen

trithemius & Frau Nettesheim
Trithemius
Hallo, Frau Nettesheim, ich gucke jetzt zu Ihnen rüber!

Frau Nettesheim
Und warum kündigen Sie das an?

Trithemius
Ich wollte Sie nur vorwarnen. Am Ende erwische ich Sie, wie Sie gerade eine Büroklammer klauen, und dann, das können Sie sich denken, müsste ich Sie entlassen.

Frau Nettesheim
Weil ich eine Büroklammer in der Hand habe?

Trithemius
Nein, weil Sie sich haben erwischen lassen. Klauen will nämlich gekonnt sein, und ich vermute, da haben Sie zu wenig Übung.

Frau Nettesheim
Da vermuten Sie richtig.

Trithemius
Hm, das ist ein Fehler. Klauen ist eine Kulturtechnik.

Frau Nettesheim
Wer hat Ihnen denn diesen Floh ins Ohr gesetzt?

Trithemius
Rüdiger Schaper vom Berliner Tagesspiegel. Der hat zur Verteidigung von Fräulein Hegemann geschrieben: „Klauen ist kein Kulturbruch, sondern eine altbewährte Kulturtechnik.“

Frau Nettesheim
So wie Lesen, Schreiben und Rechnen?

Trithemius
Genau. Zuerst war ich auch ein wenig befremdet. Aber nach kurzem Überlegen habe ich einsehen müssen, der Mann hat Recht. Freilich muss man sich auf Kosten anderer bereichern, ohne den juristischen Tatbestand des Diebstahls zu erfüllen. Dann kann man seine Mitmenschen, ja, sogar ganze Gesellschaften nach Herzenslust ausrauben und genießt trotzdem hohes Ansehen.

Frau Nettesheim
Sie meinen: Richtiges Klauen will gelernt sein.

Trithemius
Das ist der Punkt. Unsere Schulen haben versagt. Klauen ist kein Schulfach, und es gibt auch keine Didaktik des Klauens. Dieses Feld wird bislang nur an Hochschulen und Eliteuniversitäten beackert, in der Wirtschaftswissenschaft und im BWL-Studium. Manche lernen das richtige Klauen freilich durch das gute Vorbild im Elternhaus, doch die breiten Massen, vor allem die unteren Schichten, sind klautechnisch völlig unterbemittelt. Sie haben nicht die geringste Klaukultur, sind quasi funktionale Klau-Analphabeten.

Frau Nettesheim
Das ist doch Unsinn. Ehrlich währt am längsten.

Trithemius
Sagen Sie mal, Frau Nettesheim, wenn Sie hinterm Mond leben, wozu brauchen Sie dann überhaupt eine Büroklammer?
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Volontär H. P. Schmock entlarvt Riesenschwindel: Schmier-Scheck für Harald Schmidt ist eine Collage

Nicht schlecht habe ich gestaunt, als mir heute per E-Mail ein Foto zuging. Es zeigt die für ihren Roman Axolotl Roadkill gefeierte Jungautorin Helene Hegemann, wie sie dem ARD-Moderator Harald Schmidt einen Riesenscheck zuschiebt. Der Scheck stammt angeblich vom renommierten Berliner Ullstein Verlag und trägt die Aufschrift: „An: Harald Schmidt – privat, Verwendungszweck: Werbung für den Roman Axolotl Roadkill von Helene Hegemann“.

Harald-Schmidt-Helene-Hegemann-

Natürlich hatte ich mich gestern abend auch gewundert, als Harald Schmidt in seiner gleichnamigen Late-Night-Show die Autorin Helene Hegemann mit Samthandschuhen anfasste und die Plagiatsvorwürfe gegen sie abtat mit den Worten, sie habe ungefähr „17 Buchstaben“ von einem Blogger abgeschrieben. Auch die Süddeutsche Zeitung wundert sich in ihrer TV-Kritik: „ARD-Moderator Harald Schmidt umschmeichelt Helene Hegemann“ und klagt: „(...) leider war 'Dirty Harry' in dieser Nacht in der ARD bedingungslos zum Kuscheln aufgelegt.“

Wollte Dirty Harry nur kuscheln oder findet er tatsächlich nichts dabei, dass Helene Hegemann sich für ihren Roman fremder Quellen bedient hat? Sich geistiges Eigentum anzueignen, ist zwar Schmidts täglich Brot, aber ich weiß aus zuverlässiger Quelle, dass er seinen Gag-Autoren für jeden gesendeten Witz ein gutes Trinkgeld zahlt.

Jedenfalls zweifelte ich sogleich an der Echtheit des Fotos. Wer von den Rundfunkgebührenzahlern so fürstlich entlohnt wird, dass er sich eine eigene Jacht leisten kann, die er ungenutzt im Hafen von Cannes ankern lässt, würde er sich für lumpige 10.000 Euro verkaufen? Da wäre es noch wahrscheinlicher, dass Schmidt der Berliner Hochkultur-Mafia einen Gefallen schuldig war. Ein weiteres Indiz: Das Foto kann unmöglich auf der Terrasse von Harald Schmidts Kölner Wohnung aufgenommen worden sein, wie der anonyme Einsender des Fotos behauptet. In Köln liegt derzeit Schnee. Es kostete mich nicht einmal eine Stunde, die Einzelteile ausfindig zu machen, aus denen das gefälschte Foto besteht. Hier die Bildquellen des dreisten Mashup-Artisten:

1) Das Basisfoto
2) Harald Schmidts Kopf
3) Helene Hegemanns Kopf

Die Fotomontage ist schamlos, billige Stimmungsmache gegen einen verdienten Komiker, boshafte Herabsetzung einer wahnsinnig intelligenten und eloquenten Jungautorin. Nicht zuletzt eine dreiste Verletzung der Urheberrechte. Und natürlich zahlt der ehrenwerte Ullstein Verlag an seinen Autor Harald Schmidt nur reguläre Honorare. Ich bedanke mich bei mir, diesen dreisten Betrugsversuch entlarvt zu haben.

Hanno P. Schmock für Teppichhaus Trithemius
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Schlechte Laune im Universum

Heute habe ich nichts geleistet. No, Sir. Wenn ich aber doch etwas Sinnvolles getan hätte, dann wäre es nichts gemessen an dem, was ich hätte bei besserem Wetter tun können. Dann hätte ich am Morgen in alle Himmelsrichtungen losgehen können, um mich irgendwo nützlich zu machen. Aber nein, ich bin nur in eine Richtung gegangen, nach Osten, glaube ich, und bald wieder zurück. Auf den Gehwegen war Eis, das in Schlamm überging, braun und hässlich schmatzend unter meinen Stiefeln. Das war überaus verdrießlich. Wie überhaupt die Stadt derzeit nur noch hässlich ist. Da wären meterhohe Schneewehen einfach besser, aber das darf man sich auch nicht wünschen, weil das öffentliche Leben dann ganz zum Erliegen käme.

Andererseits kann ich wünschen, bis ich schwarz werde. Denn wer noch einen Beweis gesucht hat, dass Wünschen nicht hilft, sogar kollektives Wünschen nicht, der hat ihn jetzt. Oder sollten etwa die Streusalz- und Granulathersteller beim Universum besser angesehen sein als alle anderen? Es könnte wohl sein, dass die Streusalz- und Granulathersteller die einzigen sind, die fest zusammen stehen und sich diesen abscheulichen Winter wünschen, was das Zeug hält. Die anderen, also du und dein Nachbar, sein Bruder und so fort, sich einfach nur abfinden mit dem Schnee und gar nichts wünschen, sondern nur murren und maulen oder sogar still erdulden. Das ist so abwegig nicht, wenn man sieht, was die Deutschen sich als Regierung gewählt haben. Vielleicht oder sogar offenbar sind alle von einer kollektiven Todessehnsucht befallen und kriegen deshalb genau das, was sie im Stillen wünschen: Frau Holles Leichentuch, Merkel und Westerwelle.

Natürlich, wir haben Karneval, Fastnacht, Fas(e)nacht, Fastelabend, Fasnacht, Fasching, um den Winter auszutreiben. Aber wenn ich in der kosmischen Registratur was zu sagen hätte, dann würde ich den Winter erst recht so richtig lang, kalt und widerlich machen - als Strafe. Was heißt hier austreiben? Die Menschen sollen gefälligst wünschen. Wünschen, wünschen, wünschen. Wünscht euch besseres Wetter, und dann kriegt ihr es, das würde ich sagen, wenn ich was zu sagen hätte. Aber nicht närrisch werden, das macht uns Wettergöttern schlechte Laune. Wagt es ja nicht, etwa Prinzen zu küren, die sich „die Ehre geben“, am Ende noch bei Kaufhof, um sich in Kamelle aufwiegen zu lassen. Das gibt mindestens fünf Wochen Strafrunde im Winter.

Was-soll-der-Elefant

Aber Ihr Götter, wir sind so entsetzlich wintermüde. Und Ihr wisst doch: Nach müde kommt albern. Wir meinen's nicht so.
"Ach ja? Und was soll der Elefant?"
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Mein surrealer Alltag (10) - Automatisches Schreiben

Morgens, 6:15 Uhr. Gnädig bedeckt der Neuschnee den gefrorenen Schneematsch. Auch die Müllsedimente der letzten Wochen sind nicht mehr zu sehen. Das ist immerhin eine Erleichterung fürs Auge, verbirgt auch die Schneehaufen am Straßenrand, die noch am Vortag ausgesehen hatten wie Berge von Schutt. Aus dem Kiosk fällt Licht auf den Bürgersteig und lässt die dünnen Schneeflocken golden aufleuchten. Da warten zwei Kunden auf Bedienung, derweil der Kioskbetreiber die Werbetafel der Bildzeitung nach draußen bringt. Besser nicht hingucken, was BILD heute titelt. Man will ja nicht am frühen Morgen schon in den jungfräulichen Schnee brechen.

Die Bäckereifachverkäuferin hat Ränder unter den Augen. Hat sie die Nacht auf einer Luftmatratze im Laden verbracht? Das war doch gestern, als in Hannover Busse und Bahnen nicht fuhren. Vermutlich hat sie sich noch nicht davon erholt. „Endlich hat’s mal wieder geschneit!“, sage ich, um sie aufzumuntern. „Ja“, sagt sie, „ich kann’s bald nicht mehr sehen.“ Kein Wunder, bei den dicken Augen. Immerhin ist sie schon ironiefest, braucht keine Häkchengeste bei dem Wort „Endlich“. Sie stopft die Brötchen in die Tüte, als hätte sie auf jedes einzelne einen bodenlosen Groll, wünscht dann aber trotzdem einen schönen Tag.

Die beiden vor dem Kiosk sind wetterfest. Der eine hat sogar die Jacke offen. „Nein“, ruft er zur Kioskluke hinein, „gib mir mal ein Bier! Kaffee hab ich schon an der Tanke getrunken.“ Es ist nicht mal hell, unentwegt rieselt der Schnee und pudert ihm die Haare, geschätzte drei Grad unter Null, und dann schon an einer eiskalten Bierflasche lutschen? Offenbar kann man sich den Winter schön saufen. Aber man muss schon in aller früh damit anfangen.

Auf der Ihmebrücke am Schwarzen Bär gleitet einer mit dem Fahrrad aus, wirft die Arme nach vorn und legt sich lang. „Alles in Ordnung?!“ fragt ein älterer Fußgänger. „Ja, ja“, sagt der Radfahrer und rappelt sich hoch. Der Alte tritt hinzu und sagt: „Wissen Sie, was mich am meisten ärgert?“ „Nein“, sagt der Radfahrer und richtet seine verbogene Lampe. „Dass so viele, ich mache das ja auch manchmal, ohne Helm fahren.“ „Wieso?“, fragt der Radfahrer, „ich bin doch nicht auf den Kopf gefallen.“ Es ist zweifellos doppeltes Pech, direkt vor einem Klugscheißer auszurutschen.

Automatisches-Schreiben
Bei aller Klage über den Winter, er ist, wie man sieht, eine gute Zeit für automatisches Schreiben. Bei dieser experimentellen Form der Kunst sind Zufallsprozesse gestaltbildend. Automatische Texte und Bilder erlauben eine Lesart der freien Assoziation. Erfunden wurde das Automatische Schreiben um 1924 von französischen Surrealisten. Max Ernst berichtet, der Arzt André Breton habe die Gruppe der Pariser Surrealisten zu einer Mauer geführt, gegen die Tuberkulosekranke zu spucken pflegten. Man hoffte, aus den Schlieren an der Wand Inspiration zu ziehen. Es handelt sich dabei um die Technik des Hineinsehens. Sie wird noch heute beim "kreativen Schreiben" angewandt. Auswurf gibt es genug auf der Welt, und wo immer einer hingespuckt hat, steht ein anderer und schreibt einen Roman. Ich hätte die heutige Bildschlagzeile vielleicht doch lesen sollen.

Mein surrealer Alltag - Folgen 1-7
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Deutsch für Blogger (4) – Wonach man sich zu richten hat – Über journalistische Stilformen

Wonach man sich zu richten hat, das ist die Bedeutung des Wortes NACHRICHT. Jeden Abend versammeln sich die Deutschen vor den Nachrichtengeräten und empfangen die neuesten Anweisungen aus der Tagesschau. Sie tun das freiwillig, anders als in einer Diktatur, wie sie etwa in Orwells Dystopie 1984 geschildert wird. In einer Demokratie dienen Nachrichten per Definition nicht der Indoktrination. Die Nachrichtenmacher des öffentlich-rechtlichen Fernsehens achten auf eine Trennung zwischen Information und subjektiver Wertung. Daher enthalten die Nachrichten der Tagesschau keine direkte Meinungsäußerung. Diese Nachrichten sind nur manchmal tatsächliche Verhaltensaufforderungen, wenn etwa gemeldet wird, dass Bahnen und Busse nicht fahren werden, weil die Angehörigen des öffentlichen Dienstes streiken. Oder wenn absehbar ist, dass es wegen der Wetterverhältnisse zu Verkehrsbehinderungen kommen wird. Allein der Wetterbericht ist eine täglich vorkommende Nachricht im etymologischen Wortsinne.

Trotzdem enthalten alle Nachrichtensendungen subjektive Wertungen. Das tägliche Aufkommen an Nachrichten ist immens, die Sendezeit begrenzt. So liegt die subjektive Wertung in der Auswahl der Nachrichten. Gewisse Themen stehen immer im Vordergrund: das Tun und Lassen von hochrangigen Politikern, deren Tagungen, Kriege, Katastrophen, kulturelle und gesellschaftliche Ereignisse, Wirtschaft, Wissenschaft und Technik, Sport und seltsamer Weise die Geschehnisse an der Börse. Auswahl, Bebilderung, Platzierung und die Länge der Nachrichten suggerieren deren Wichtigkeit. So steht die scheinbare Objektivität der Nachrichtensendung im ständigen Widerspruch zur tatsächlichen Manipulation der öffentlichen Wahrnehmung und Diskussion.

Ähnlich verhält es sich mit der so genannten seriösen Presse. Hier ist jedoch die Vielfalt größer, weil Zeitungen mehr Platz haben. Warum aber täglich nur genauso viel zu passieren scheint, dass es exakt in eine Zeitung passt, ist ein Phänomen, über das Kinder sich noch wundern, das Erwachsene nur selten kritisch reflektieren. Alle Massenmedien, Rundfunk wie Zeitung und Zeitschrift, schreiben voneinander ab. Wenn ein neues Thema aufkommt, wird es von allen aufgegriffen und kolportiert. Das wiederum suggeriert Zuhörern, Zuschauern und Lesern, dass sie ihr Denken und Reden daran zu orientieren haben. Auf diesem Umweg werden Nachrichten, die nur indirekt mit dem Leben des Einzelnen zu tun haben, zu Denk- und Diskussionsvorlagen.

Nachrichten werden in der Vergangenheitsform Präteritum verfasst. Die kürzeste Nachricht ist die MELDUNG, die Langform ist der BERICHT.

Hannover (eigener Bericht)
Bauarbeiter der Baufirma XY rissen am Montag in der Parterrewohnung des Hauses X-Straße Nr. 7 zwei Wände ein und störten damit die Konzentration des Autors dieser Zeilen. Sie bedienten sich dazu großer Vorschlaghämmer. Die Ruhestörung war nötig geworden, weil der Hausbesitzer den Raum eines seit langem leer stehenden Ladenlokals der Parterrewohnung zuschlagen wollte.

Beim Bericht muss das Wichtigste zuerst genannt werden. Er beantwortet bereits in den ersten Sätzen die W-Fragen: Wer, was, wo, wie, warum. Weitere Einzelheiten in absteigender Wichtigkeit. (Die weiteren Einzelheiten bleiben dem Leser diesmal erspart. Kein Platz und darum von hinten weggekürzt.) Diese Textgestaltung heißt Lead-Form. Sie soll im amerikanischen Bürgerkrieg entstanden sein. Die Kriegsberichterstatter telegrafierten ihre Berichte dergestalt hastig an die Heimatredaktion, weil die Telegraphenverbindungen jederzeit durch Kriegshandlungen unterbrochen werden konnten.

Man hätte die Form des Berichts in Friedenszeiten nicht beibehalten müssen. Doch wenn sich beim Leser einmal spezifische Rezeptionsgewohnheiten herausgebildet haben, müssen sie auch bedient werden. Zudem vereinfachte die Lead-Form den Bau einer Zeitungsseite im Bleisatz. Maschinensatz besteht aus von der Setzmaschine gegossenen Zeilen. Erwies sich ein Bericht zu lang, konnte der Metteur ihn abschnittsweise von hinten kürzen. Er nahm den Zeilenstapel aus der Satzform und warf ihn in einen Sammelbehälter. Hätte der mit ihm arbeitende Schlussredakteur einzelne Sätze aus dem Bericht gestrichen, wäre ein Neusatz der Zeilen nötig gewesen. Die überschüssigen Textabschnitte wurden also in Gänze verworfen, um später eingeschmolzen zu werden.

Nur wenige Blogs enthalten Berichte. Blogger pflegen Information und Meinung zu vermischen. Das ist ein Grund, warum Journalisten die Blogs geringschätzen. Doch die Boulevardisierung aller Massenmedien hat die klassische Trennung von Meinung und Information längst aufgehoben. Allein die Tagesschau hält sich noch daran. Daher glauben auch viele Deutsche, der Tagesschausprecher wäre der Regierungssprecher.

Abgelegt unter: Teppichhaus Textberatung

P.S.: Warum die Wohnung unter der des Autors leer stand und jetzt umgebaut werden kann, erhellt dieser Bericht:

Irreführende Werbung hat Opa getötet

auf-draht1

Hannover (eigener Bericht) In einer Wohnung im Stadtteil Linden wurde am vergangenen Wochenende die stark verweste Leiche des Rentners Erwin K. gefunden. Offenbar war er von der Stehleiter gefallen. Die Angehörigen klagen an: „Die Johanniter haben Opa getötet.“

Ein Sprecher der Johanniter wies den Vorwurf zurück. Aus Liebe zum Leben habe man ein erfahrene Werbeagentur beauftrag, den Notruf ansprechend zu visualisieren. Das Foto sage eindeutig aus, dass auf Draht ist, wer im Notfall die Johanniter ruft. Schließlich sei in der Glühbirne auch ein Draht. „Im Traum wären wir nicht auf die Idee gekommen, dass jemand versucht, mit einer Glühbirne zu telefonieren“, sagte der Sprecher bei einer Pressekonferenz.

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