Gemein! Hacker greifen Teppichhaus Trithemius an

April-April!
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Einfüßler, Chinesen und schon wieder Weltuntergang

Der bundesweite FUSS e.V. interessiert sich für alles, was mit Füßen zu tun hat. Im letzten Sommer beispielsweise meldete der Verein in einer Pressemitteilung einen rätselhaften Fußabdruck, der im Norden Brandenburgs entdeckt wurde:
April
Was hatte der Einfüßler wohl 1,50 Meter tief unter Brandenburg verloren, und wo kam er her? Im Sandkasten des Spielplatzes neben dem Teppichhaus muss ein ziemlich tiefes Loch sein. Ringsum sind Sand und Erde aufgeworfen, und zwar von innen herauf. Und seitdem ich das vom Fenster aus entdeckt habe, lungern hinten beim Sandkasten vier Gestalten herum. Scheinen ziemlich erschöpft, denn sie sitzen seit Stunden unentwegt auf einer Bank. Zum Glück sind es Zweibeiner. Geheuer sind sie mir trotzdem nicht, denn sie könnten ja Chinesen sein, die ein Loch durch den Globus gegraben haben. Man möge mich korrigieren, denn ich weiß nicht wirklich, welches Land auf der anderen Seite der Erde genau gegenüber Hannover-Linden Mitte liegt. Der Ozean kann’s aber nicht sein, sonst wären die Männer nass und es käme Wasser aus dem Loch. Oder nicht? Kann man gar nicht durch einen Tunnel zur anderen Seite des Globus kriechen? Bliebe man etwa in der Erdmitte stecken oder würde dort schweben, weil es keine Gravitation gibt?

Wer sich mit derartigen Fragen beschäftigt, betreibt theoretische Grundlagenforschung. Will man die Thesen und Theorien der Grundlagenforschung in der Praxis untersuchen, braucht man lange Tunnel, und das ist sehr teuer. Im CERN haben sie einen Ringtunnel von nur 27 Kilometer Länge, und der kostet schon 10 Milliarden. Und sie schießen dieser Tage auch keine Chinesen durch, sondern je zwei Protonenbündel. Die sollen in der Mitte kollidieren und kleine Schwarze Löcher erzeugen. Es geht darum, in den Zerfallsprodukten der urgewaltigen Explosionen das Higgs-Teilchen zu finden, besser bekannt als „Gottesteilchen“. Der Name ist freilich Unsinn. Selbst wenn das Higgs-Teilchen gefunden wird, kommt es nicht tatsächlich von Gott. Zum Glück nicht, denn sonst wären Wissenschaft und Glaube mit einem Knall dasselbe, eine schreckliche Vorstellung. Wie es zur irreführenden Wortprägung „Gottesteilchen“ gekommen ist, erklärt Robert Aymar, ehemaliger Generaldirektor der Europäischen Organisation für Kernforschung CERN:

„(…) das Higgs- bzw. schöpferische Teilchen. Es ist ein Name, den der Physik-Nobelpreisträger von 1988, Leon Lederman, geprägt hat. Der Amerikaner hatte ursprünglich einen ansprechenden Titel für sein Physikbuch gesucht (…) Enttäuscht darüber, dass er das Higgs-Teilchen jahrelang nicht finden konnte, hat er es als das ‘gottverdammte Teilchen’ bezeichnet. Sein Verleger fand aber, ‘Gottes-Teilchen’ wäre ansprechender.“

Sie suchen im CERN also nach einem gottverdammten Teilchen. Das sagt eigentlich alles. Übrigens muss man sich wegen eines eventuell entstehenden winzigen Schwarzen Lochs keine Sorgen machen. Die Welt geht noch nicht sofort unter, denn Schwarze Löcher sind nur mäßig gefährlich. Es gibt sie überall. Wir sind quasi umgeben davon, man muss nur in die Zeitung schauen oder das Fernsehgerät einschalten. Wer es aber nicht erwarten kann, hier die Wiederholung des Weltuntergangs in CinemaScope:

Apokalypse-mit-Musik
Fotos, Text, Animation: Trithemius
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Finstere Erlebnisse und Spaß im Dunkeln

Früher war der Gang zum Briefkasten weitgehend ungefährlich, zumindest in Hannover, glaube ich, - als der Mann noch kein Auto hatte, der mich heute überfahren wollte. Er wartete in der Einmündung der Nebenstraße auf eine Lücke im Verkehr, um in die bevorrechtigte Straße einzubiegen. Ich möchte nicht darüber streiten, ob ich eine Lücke bin oder nicht. Meiner Ansicht nach bin ich so etwas wie ein Festkörper, der sich durch den physikalischen Raum bewegt. Ich querte also die Straßeneinmündung, als der Autofahrer sein Auto nach vorn hüpfen ließ, um eine Lücke im Verkehr zu nutzen, und dann äußerst unwillig direkt an meiner linken Wade stoppte.

Da hatte ich wenig Zeit, mich zu erschrecken. Durch die Frontscheibe des Autos sah ich den Kopf des Autofahrers aufleuchten wie eine rote Glühbirne. Und seine Hände flogen vom Lenkrad in die Höhe, um mich wegzuscheuchen oder mehr noch, um eine Lücke aus mir zu machen. Seine Lippen formten irgendein Wort mit A.

Böse Zungen
würden behaupten, ich hätte dem Ballon einen Vogel gezeigt. Das werde ich abstreiten, denn Vögel bringen Ballons zum Platzen. Geplatzt ist er nämlich nicht, sondern er stieß die Tür auf und den Kopf hinterher und schrie mich an: „Guck doch, wo die Autos fahren!!!“ Da beugte ich mich über die Motorhaube, damit er mich auch gut verstehen konnte und sagte: „Wenn Sie hier einbiegen wollen, müssen Sie mich vorlassen!“ Diese Gliedsatzkonstruktion verfehlte ihre Wirkung. Der Satz war ihm zu kompliziert. Er beendete unser Gespräch abrupt und zog die Tür zu.

Auf der anderen Straßenseite ein Vater mit seinem kleinen Sohn. Beide staunten die Szenerie an. Als ich an ihnen vorbeiging, sagte der Vater: „Weiß der nicht, dass er warten muss?“
„Ach, sagte ich, „er hat keinen Führerschein.“ Das war nicht ganz korrekt, ich kann’s gar nicht wissen, denn über seinen Führerschein hatten wir uns nicht mehr unterhalten können. „Anzeigen!“, sagte der Vater, „nur so kriegt man die von der Straße.“

Uff, dachte ich, das ist der Grund, warum man die Dummbratzen und Halunken niemals alle aus dem Verkehr ziehen kann. Man müsste ja den ganzen Tag Anzeigen schreiben, und das vor allem gegen die Halunken in Kirche, Wirtschaft und Politik. - Entschuldigung, vom Thema abgekommen. Schon wird’s finster. Wie gestern, als für den Klimaschutz weltweit die Lampen ausgemacht wurden. Das las ich im Tagesspiegel. In den Leser-Kommentaren wird darüber spekuliert, ob uns die Politiker lieber im Dunkeln sähen oder daran gewöhnen wollten, dass demnächst das Licht ausgeht, weil die Länder pleite sind. essen im DunkelnEinen Vorgeschmack kann man sich hier schon holen: Essen im Dunkeln, blinde Kellner, und dann kommt ein blinder Friseur und schneidet dir über den Tellerresten die Haare. Aber der Koch ist selbstverständlich nicht nur blind; er hat Schnupfen, eine taube Zunge und beide Arme in Gips.

(Anzeige aus: Hallo Sonntag)

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Schreit euch frei, aber woanders

Wann immer ich am Hannöverschen Theater am Aegi vorbeikomme, schreien mich von einem Plakat die Scorpions an, und drei von ihnen zeigen sogar mit dem Finger auf mich. Der Grund dafür ist eigentlich keine Entschuldigung: Die aus Funk und Fernsehen bekannte Hannöversche Rockgruppe geht auf Abschiedstournee, weil ihre Mitglieder inzwischen in die Jahre gekommen sind. Vermutlich sind sie müde und auch irgendwie lustlos, denn man hat so ziemlich alles erreicht, was eine Rockband sich erträumen mag. Inzwischen wohnt man schön im Grünen, da draußen im Speckgürtel von Hannover, wo viele Millionäre sich dem luxuriösen Nichtstun hingeben.

Wurst-Scorpions

Ehrlich gesagt, habe ich die Musik der Scorpions nie gemocht. Sie zu hören, bereitet mir Unbehagen. Mir ist dann jedes Mal, als würden mir zwei frittierte Marsriegel in die Ohren gerammt, - plopp, plopp. Und du kriegst das klebrige, süße Zeug kaum wieder heraus. Will sagen, die Musik der Scorpions ist ziemlich aufdringlich, genauso aufdringlich wie ihr hoffentlich letztes Plakat.

Der für die scheußliche Bildidee des Plakats verantwortliche Fotograf hat vermutlich gesagt: "Na los, schreit euch frei! Zeigt, was ihr noch drauf habt!", und das haben die fünf eigentlich müden Männer dann getan, ohne Rücksicht auf mein ästhetisches Empfinden. Man kann solche erstarrten Posen einnehmen, darf wie Sänger Klaus Meine (Bildmitte) in die Knie gehen, als hätte man sich grad vom Topf erhoben, darf auch schreiend auf den blödsinnigen Fotografen zeigen, aber so ein Bild sollte doch besser nicht in die Öffentlichkeit gelangen. Im öffentlichen Raum gilt es Rücksicht zu nehmen. Es ist nicht schön, sich von Wildfremden anschreien zu lassen, und die ausgestreckten Zeigefinger erscheinen mir wie die entsetzliche Drohung: Gleich gibt’s wieder zwei frittierte Marsriegel in die Ohren.

Lange konnte ich mich nicht dazu überreden, das aufdringliche Plakat zu fotografieren. Noch länger dauerte hat’s gedauert, bis ich wusste, woran mich die gequälten Gesichtsgrätschen der Scorpions erinnern: an Wurst-Achim, das lauteste Lebewesen der Welt.

Wurst Achim

abgelegt unter: Zirkus des schlechten Geschmacks
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Finkenschlag und Klickern

Welch ein Glück, dass die Evolution die Dinosaurier auf ein erträgliches Maß verkleinert hat. Was wäre das für ein entsetzliches Krachen im Geäst, wenn sie von Baum zu Baum hopsen. Und erst das schmachtende Grunzen der Balzvorbereitung. So aber schlägt der Fink sein helles Lied, und hüpft er von Zweig zu Zweig, wir sehen ihn kaum. Die Sonne scheint, – ich werd' verrückt –, reiße meinen Mantel auf und schlendere durch den Park. Das Frühjahr, der Frühling, der Lenz – die drei geben ein Gastspiel, das hoffentlich noch in die Verlängerung geht.

In meiner Kindheit begann jetzt die Klickerzeit. Andernorts heißen die Klicker „Murmeln“, was vom Wort Marmor hergeleitet ist. Klicker oder Knicker aber ist schöner, weil onomatopoetisch. Die Wörter ahmen den Laut nach, wenn die Ton- oder Glaskugeln zusammenstoßen. Ein leises Klickern ist schon zu hören, wenn man das Säckchen aufnimmt, worin die Kugeln aufbewahrt werden. Ich hatte eines aus grauem Leinen, das sich oben mit einer eingenähten Schur zuziehen ließ. Reich an Klickern war ich nicht, denn obschon ich mir gelegentlich welche kaufte, verlor ich die meisten wieder. In meiner Nachbarschaft wohnten die Gebrüder Schnitzler. Beide waren Kannibalen im Klickern und unschlagbar, so dass niemand gern mit ihnen spielte. Freilich hatten sie die dicksten und schönsten Glasmurmeln, nicht gut für leichtsinnige Menschen wie mich.

Zum Frühling gehört noch heute für mich der erdige Geruch des Bürgersteigs vor unserem Haus. Einer drehte mit dem Absatz ein spitzes Loch hinein, wir klopften die Erdkrümel wieder platt, ein Strich wurde gezogen, und dann ging’s los, das Schussern und Schieben, das Einlochen, das Hin und Her von Klickergewinn, -verlust und erneutem Einsacken der farbig lackierten Ton- und geheimnisvoll marmorierten Glaskugeln. Es war wunderbar – aber nur bis irgendwann die Schnitzlers kamen, sich ins Spiel drängten und gnadenlos alles abräumten. Außer Klickern konnten sie nicht viel, und daher war der Frühling ihre Saison. Ich weiß nicht, was aus ihnen geworden ist, ob ihre Klickermeisterschaft ihnen beruflich weitergeholfen hat oder ob sie im Lenz ihres Lebens auch schon den Zenit erreicht hatten. Aber manche sind gar niemals in irgendwas richtig gut, da ist es doch besser, wenn man von sich sagen kann: „Als Kind war ich Klickermeister.“ Damit wird man im Alter seinen Enkeln imponieren, so man welche hat, die wissen, was das ist.

Als meine Kinder im Klickeralter waren, lebten wir in der Stadt. Da kann man mit dem Absatz keine Klickerlöcher in die Bürgersteige machen. Sie hatten zum Klickern einen flachen Stumpfkegel aus Plastik mit einer Mulde darin. Da haben sie mir immer ein bisschen leid getan, denn mit der Nase über Plastik und Betonplatten, das ist etwas anderes als den Duft der frühlingshaften Erde zu riechen. Trotzdem werde ich nicht behaupten, dass früher alles besser war. Was nämlich schlechter war, das war natürlich nicht besser.

Lies auch: Hüpfekästchen
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Mein surrealer Alltag (12) - Mag nicht einkaufen

Ding-auf-der-Schwelle
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Kopfkino - Die Pforten der Wahrnehmung

Nur selten erinnere ich mich an die Einzelheiten eines Traums. Viel öfter bleibt nach dem Erwachen nur eine Ahnung, die sich nicht mehr erhaschen lässt. Dann ist der Traum wie ein durch die Gassen flüchtender Kerl, von dem ich noch die Fußhacke sehe, bevor er um die nächste Ecke verschwindet. Und eile ich hinterher, biegt er schon um die nächste Ecke, aber diesmal sehe ich das flatternde Hosenbein. Das macht Mut, ich strenge mich an, erblicke sogar seinen Rücken, aber dann schlägt er mir grinsend ein Schnippchen, wird schneller und schneller, bis mir die Puste ausgeht und ich mich resigniert an eine Hauswand lehne, derweil er sich in der Ferne verflüchtigt. Ich wende mich ab. Plötzlich scheint er mich zu rufen, taucht wieder aus dem Nebel auf, kommt sogar näher und lockt mich. Aber will ich ihn ergreifen, dann rennt er schneller als zuvor.

Letzte Nacht gegen Morgen träumte ich, einen Text zu schreiben. Er war nicht erbaulich, sondern eine sarkastische Bestandsaufnahme dieser Welt an ineinander verwobenen Beispielen. Seltsamerweise träumte ich dann, dass ich den Text nach dem Erwachen wohl kaum noch vor Augen hätte. Da muss ich mich schon im Halbschlaf befunden haben, träumte nicht einfach willenlos daher, sondern versuchte einiges zu sichern, in eine feste Form zu bringen, die sich leicht memorieren ließe. Geholfen hat es nicht. Sobald ich die Augen aufschlug, rannte der Traum von mir fort.

Gestern Abend, als mich einmal mehr der Weltschmerz umfing, da dachte ich schon, dass es wenig hilft, die gesellschaftlichen Übel immer wieder aufzuzeigen. Man muss sich gelegentlich anderen Themen zuwenden. Daher nehme ich den vergessenen Traum als Zeichen und schreibe über das Traumphänomen selbst. Offenbar ist etwas im Kopf klüger als wir. Man muss es nur gewähren lassen, die Dinge zu richten. Wir wissen, dass es besser ist, eine wichtige Entscheidung nicht am Abend zu fällen, sondern sie zu überschlafen. Am Abend ist der Verstand von den Wirren des Tages geschwächt und daher kein kluger Ratgeber. Auch was man am Abend niederschreibt, hat unter der hellen Morgensonne kaum Bestand.

Es heißt, der visionäre Malerdichter William Blake (1757 – 1827) habe eine künstlerische Drucktechnik erfunden, die Reliefradierung. Er selbst berichtete, im Traum sei ihm sein verstorbener Bruder erschienen und habe ihm die neue Drucktechnik beigebracht. Man muss nicht daran glauben, dass Verstorbene in den Träumen der Lebenden herumgeistern und sich sogar mit so irdischen Dingen wie der Weiterentwicklung von Drucktechniken beschäftigen. Vielleicht war Blakes verstorbener Bruder nur ein Bild, in das der selbsttätig arbeitende Verstand die Lösung eines Problems kleidete, mit dem sich William Blake am Abend zuvor beschäftigt hatte.

Natürlich ist ein verstorbener Bruder ein starkes Bild, das am Morgen nicht so leichtfüßig davonrennt wie mein Traumgesicht. Überhaupt hat es etwas mit Achtung und Beachtung zu tun, mit der Frage, wie ernst und wichtig man seine Phantasien nimmt und ob man bereit ist, Phantasien hervorzulocken, mit ihnen zu spielen und ihnen lang genug hinterher zu rennen. Denn alles Neue muss in der Phantasie vorweggenommen sein. Das so genannte Kreative fällt nicht vom Himmel und entspringt auch nicht dem Musenkuss. Wer nicht spielerisch umzugehen versteht mit seiner Realität, dessen Himmel ist grau und dessen Lippen taugen nur dazu, das nachzuplappern, was andere schon x-mal vorgeplappert haben.
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Kopfkino - Nachteile eines Haufenkriechers

Heute Morgen habe ich unter der Dusche einen träumerischen Spaziergang gemacht wie durch einen warmen Frühlingsregen. Ich überwand dabei mühelos Zeit und Raum. Irgendwann erwachte ich, und als ich die Augen öffnete, war ich ganz erstaunt, mich in meiner Duschkabine wieder zu finden. Rasiert habe ich mich nicht, denn wenn ich mich morgens rasiere und abends noch wohin will, muss ich mich zweimal rasieren. So werde ich den Tag über unrasiert herumlaufen, was einen gewissen Nachteil hat. Wenn ich nicht rasiert bin, sehe ich aus wie ein Bärremkrüffer, und die Leute fürchten sich ein bisschen vor mir.

Bärremkrüffer ist ein Wort aus meiner Kindheit, es ist Nettesheimer Platt, (eine Form des Ripuarischen, nahe verwandt mit Kölsch Platt), und bedeutet „Haufenkriecher“. Ein Bärrem ist ein Strohballenstapel, ein haushoher Quader auf einem Stoppelfeld. Als Kinder haben meine Freunde und ich gerne am Bärrem gespielt, bis der Bauer mit seinem Traktor übers Feld herankam und uns verjagt hat. Wir sind hochgeklettert und runtergesprungen oder haben Strohballen aus dem Bärrem herausgezogen und uns darin eine Höhle gebaut, in der Hoffnung, es würde regnen und wir könnten gemütlich drinnen sitzen. Manchmal bauten wir auch ausgedehnte Labyrinthe. Dann lockten wir Mädchen herbei und forderten sie auf, durch das Labyrinth zu kriechen. Damit sie sich in der absoluten Finsternis erschreckten, hatten wir an verschiedenen Stellen Kohlblätter ausgelegt. Die fühlten sich dann feucht und unheimlich an.

Einmal entdeckten wir weit draußen im Feld eine fertige Höhle im Bärrem. Die war eingerichtet wie eine Wohnung, hatte eine Schlafstelle mit Decken, da waren Kochgeschirr, Kleider, alte Zeitschriften und diverses Kleinzeug, was man halt zum täglichen Leben braucht. Wir stöberten ein wenig herum, fanden eine runde Dose mit Veilchenpastillen und klauten uns welche. Später sagte meine Mutter, die Wohnung habe sich ein Bärremkrüffer gebaut. Das ist ein Landstreicher, der für eine gewisse Zeit in einem Bärrem lebt.

Schriftkartei

Vorgestern hatte ich mich morgens auch nicht rasiert und fuhr am späteren Nachmittag ein bisschen mit dem Rad herum. Plötzlich fiel mir ein, dass ich mir eigentlich in der Leibnizbibliothek einen Vortrag anhören wollte, wusste aber die Uhrzeit nicht mehr. Außerdem wollte ich nicht wie ein Bärremkrüffer in der Leibnizbibliothek sitzen. Also fuhr ich wieder nach Hause, suchte die Programmankündigung hervor, und siehe da, die Veranstaltung würde in genau zwei Minuten beginnen, nämlich um 17 Uhr. Das war nicht mehr zu schaffen, selbst wenn ich sofort aufgebrochen wäre, ohne mich zu rasieren. Verpasst habe ich die Lesung von Dr. Olaf Thomsen, Berlin: Buchskorpione, Leseratten, Nackenbeißer. Zur Geschichte der Schrift, des Buches und des Lesens.

Kleine Pause, ich muss Wäsche aufhängen und mal kurz weg.

Weiter: Jean Pauls vergnügtes Schulmeisterlein Maria Wutz zu Auenthal war sein Lebtag so bettelarm, dass er sich keine Bücher leisten konnte. Darum besorgte er sich den Leipziger "Meßkatalog" und schrieb sich die Bücher selbst, unter anderem auch Kants „Kritik der reinen Vernunft“.

Ich wäre zwar nicht zu arm gewesen, mir den Vortrag von Dr. Olaf Thomsen aus Berlin zu leisten, aber aus den oben geschilderten Gründen muss ich mir jetzt die Geschichte der Schrift, des Buches und des Lesens selber schreiben. Sie befindet sich aber schon in der oben abgebildeten Schublade. Diese vorwärts wie rückwärts beschriebenen Karteikarten enthalten nämlich die Ergebnisse meiner Studien von etwa zehn Jahren. Dazu bin ich durch einen ziemlich großen Bücherhaufen gekrochen, tauchte oftmals blankrasiert ein und kam bärtig wieder raus. Gerne hätte ich allerdings erfahren und dem geneigten Leser mitgeteilt, wie Dr. Olaf Thomsen es angestellt hat, etwa 3000 Jahre Schriftgeschichte und über 500 Jahre Buchproduktion und -rezeption in höchstens zwei Stunden zu packen und nebenher noch zu erklären, was Buchskorpione, Leseratten und Nackenbeißer sind. Das könnte ich nicht, wie hier und hier zu sehen, wo nur ein Geringes schon zusammengetragen ist. Die Kunst liegt eben im Weglassen, und daher ist es wohl gut, dass ich schon mal den Vortrag von Dr. Olaf Thomsen weggelassen habe.
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