Warnung vor dem Graphologen!

 

An einem Frühlings Abende von 1794 sah ein Mann durch das Fenster seines Gartenhauses eine junge Dame, die zum Besuch da war, beschäftigt, mit einer Schere seinen Namen, den er mit Kresse gesäet hatte, für ein Butterbrot abzuschneiden, das auf dem Teller neben ihr auf der Erde stund.

Was machen Sie da, rief er, indem er das Fenster aufriß: Schneiden Sie mir meinen guten Namen nicht ab, das will ich mir verbitten.
Das Frauenzimmer, ohne sich im mindesten in ihrer Arbeit stören zu lassen, antwortete vortrefflich: Ihrer Ehre thut es keinen Schaden, und für mich ist es ein kleiner Gewinn.

 

Der Mann, der seinen Namen mit Kresse gesät hatte, war Georg Christoph Lichtenberg (1742-1799). Wie mag der Schriftzug aus Kresseblättchen wohl ausgesehen haben? Lichtenberg schrieb Kurrent, die handschriftliche Variante der Fraktur. Er selbst sagt: Wir glauben öfters, daß wir zu verschiedenen Zeiten verschiedene Hände schrieben, während als sie einem Dritten immer einerlei erscheinen.

Man muss noch einen Schritt weiter gehen: Die Handschrift bleibt immer charakteristisch und unverkennbar, gleich welches Schreibgerät man benutzt, gleich welche Größe der Schriftzug hat, ob papiersparend klein oder Ergebnis einer weit ausladenden Körpergeste des Sämannes. Eckhard Henscheid, Lichtenbergs geistiger Urenkel, springt eines Morgens aus dem Bett und notiert unbeschwert in sein Sudelbuch:

Dass man jeden Morgen, wenn's wieder losgeht, noch immer dieselbe Handschrift hat, obwohl im Kopf doch nichts mehr stimmt: Charmantcharmant

Es war da wohl kein Graphologe in der Nähe. Die Konstanz der persönlichen Handschrift ist der Hebel der Graphologie. Ihr Begründer ist Ludwig Klages, der sie 1916 mit seinem Buch: "Handschrift und Charakter" erstmals wissenschaftlich zu fundieren versucht hat. Indem die Natur selbst ein "rhythmischer Sachverhalt" sei, so müssten sämtliche Bewegungen des Menschen umso rhythmischer verlaufen, je mehr er sich im "Naturzustande" befinde. Rhythmusstörungen gehen demnach auf psychische Zustände zurück und zeigen sich in der Handschrift. Klages und seine Anhänger profitieren von der Umorientierung in der Schreibdidaktik, weg von der Duktusschrift, hin zur Ausdrucksschrift. In der persönlichen Ausdrucksschrift zeigen sich die charakterlichen Prägungen deutlicher als im Duktus der Vergangenheit, so dass sich dem Graphologen neue Anhaltspunkte bieten.
Den rechten Aufwind bekommt die Graphologie im Nationalsozialismus. Auf Klages diffuser Lehre aufbauend, isoliert man nicht nur charakterliche, sondern auch rassische Merkmale aus der Handschrift. Die Graphologie wird zum probaten Selektionsinstrument. Im Dienste der Nationalsozialisten wächst dem Graphologen erstmals eine unheilvolle Macht über Menschen zu. Er wird zum Taxator, der den Daumen hebt oder senkt, der vermeintlich rassisch oder charakterlich Minderwertige aussortiert und sich dabei vor seinen Opfern nicht zu rechtfertigen braucht, da er seine zweifelhafte Kunst, dieses pseudowissenschaftliche Kaffeesatzlesen, im Geheimen ausübt. Von diesen Wurzeln her stinkt die Graphologie noch heute. Sie ist weiterhin ein missbräuchliches Machtmittel von fragwürdiger Natur.

Lichtenberg konnte sich noch getrost über die Charakterlehre und Handschriftendeutung seines Zeitgenossen Johann Caspar Lavater (1741-1801) erheitern, heute ist die Handschrift und somit die Persönlichkeit des Schreibers kaum vor dem Zugriff des Graphologen und dessen Auftraggeber zu schützen. Wer im Bewerbungsverfahren einen handschriftlichen Text vorlegen soll, nehme tunlichst davon Abstand. Unternehmen, die immer noch auf das Urteil von Graphologen vertrauen, sind nicht unbedingt seriös.

Ludwig Klages Idee vom ruhig dahin fließenden Naturzustand des Menschen ist ein Ideal, das von den Gegebenheiten des Alltags gestört wird. Annähern kann man sich diesem Zustand schon, wenn für eine Weile die innere Sammlung gelingt. Das zeigt sich dann an der Handschrift, wenngleich es anderen nicht unbedingt auffällt, wie Lichtenberg sagt. Man selbst kennt sich besser.

Es gab eine Zeit, in der ich viel kalligraphisiert habe. Damals war ich innerlich ruhig. Denn die Kalligraphie bringt Sammlung, es ist wie Meditation. Man tut etwas Schönes mit der Hand. Der Geist bummelt, und das Herz erfreut sich an den Formen der Buchstaben. Sehr zu empfehlen.

2011 mal gelesen

Abendbummel – Leistungsträger mit rostiger Kette

Weil mein fauler Nachmittagskopf mal wieder nicht denken wollte, setzte ich mich trotz stürmischer Witterung aufs Rad und fuhr an Ihme und Leine entlang, streifte den Maschsee und umrundete die Ricklinger Teiche. Im Ricklinger Holz verlor ich ein bisschen die Orientierung, weil ich unbedingt mir unbekannte Wege fahren wollte, umarmte dafür in Ruhe und unbeobachtet eine stattliche Buche und fand dann beinah nach Hause, wenn mich nicht eine Neueröffnung gelockt hätte: „Deutschlands größter Fahrradfachmarkt“, auf 10.000 Qadratmetern in der ehemaligen Flugzeughalle von Hanomag. Dieser funkelnde Radfahrertempel weckte in mir eine Unzahl von Gelüsten. Nie zuvor habe ich so viele neue Fahrräder gesehen. In den breiten Gängen sah ich die potentiellen Käufer auf ihren potentiellen Neuerwerbungen Probe fahren, widerstand aber der Versuchung, es ihnen nachzumachen.

Später hielt ich an einem Kiosk. Da stand ein junger Mann, fast noch ein Kind, ein wenig verlottert. Er trug die rote Jacke eines Pizza-Lieferservices und eine verschossene Camouflage-Hose. Hinten auf seinem uralten roten Damenfahrrad hatte er ein Gestänge für die Pizza-Liefertasche. Das Rad hatte keine Gangschaltung, und die Kette war völlig verrostet. Ich mochte kaum glauben, dass die Kettenglieder sich noch bewegen würden. Während ich wartete, kaufte der Junge sich für 25 Cent Süßigkeiten, eine Colaflasche aus Weingummi, eine kleine gelbe Banane von mir unbekannter Konsistenz und irgendwas aus Schaum.

Nachdem ich mein Rad auf dem Hof abgestellt hatte und hinauf wollte in meine Wohnung, sah ich durch die Glasscheibe der Haustür eine rote Jacke, hörte, wie es im Haus irgendwo klingelte, und dann war der Junge hinter mir auf der Treppe. Er stieg sie hoch wie ein alter Mann. Dieses Nebeneinander von glitzerndem Überfluss und hoffnungsloser Unterversorgung macht mich manchmal gemütskrank.

Guten Abend
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Mein surrealer Alltag (14) Blaues Auge, Himmelstern

Seit zwei Tagen laufe ich mit einem blauen Auge durch die Gegend. Als ich vorgestern Morgen in den Spiegel schaute, war es einfach da. Seither beäuge ich mich misstrauisch, denn dieses nächtliche Eigenleben ist mir suspekt. Ich hatte in der Nacht am Dachfirst eines unwägbar hohen Hauses gehangen, mich mit beiden Händen festgehalten, obwohl das unmöglich schien. Der First war nämlich so breit, dass man darauf bequem hätte balancieren können, und er hatte auch keine Kante, um die ich meine Finger krampfen konnte, sondern war abgerundet. Links neben mir lag ein englischer Kleinadliger auf dem Bauch, und anders als ich konnte er sich gelegentlich mit den Füßen auf der Dachrinne abstützen. Sie hing aber schon ein bisschen lose in der Halterung.

Auf dem Dach
Während ich leise fürchtete, jeden Moment loslassen zu müssen und in die Tiefe zu stürzen, war der englische Kleinadlige guter Dinge. Er blies mir sauber geformte Rauchringe ins Gesicht, indem er mit dem Zeigefinger der freien Hand auf seine linke Wange klopfte. Die Rauchringe kamen aber nicht aus seinem grinsenden Maul, sondern aus der rechten Wange. Mir war klar, dass es sich um einen Taschenspielertrick handelte, aber ich kam nicht dahinter, wie der Kerl das gemacht hat. Vor allem frage ich mich eines: Wenn er mit der Linken auf seine Wange klopfte, mit der Rechten am Dachfirst klammerte, wie hat er mir ein blaues Auge gehauen und vor allem, warum?
Ob das Lexikon der Traumsymbole hilft?

Englisch - sprechen: Glück in Geschäften,
aber Pech in der Liebe
.
Gut, wir haben nichts gesagt.
- ein Buch in dieser Sprache lesen:
man wird sich langweilen.

Ging sowieso nicht, ich hatte keine Hand frei.
Kleinadel steht nicht drin, aber ...
Adel - mit Adelspersonen sprechen:
ein gestecktes Ziel wird nicht erreicht.

Selbstverständlich. Man muss nicht mal was sagen,
schon hat man ein blaues Auge.
Dach - besteigen: Man wird sich in Gefahr begeben.
Wer hätte das gedacht.
- auf einem stehen: hohe Ehre
Mist, ich hab gehangen.
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Ballack, Bobbejaan, schneeweiße Hasen und Gipsbein

Aus mir unbekannten Gründen dachte ich gestern an den jodelnden Cowboy Bobbejaan Schoepen, und dann konnte ich nicht umhin, seinen kuriosen Hit „Ich weine in mein Bier“ zu singen. Schon ewig hatte ich nicht an Bobbejaan gedacht, obwohl ich ihn im Jahr 1997 einmal leibhaftig gesehen habe, in seinem belgischen Freizeitpark Bobbejaanland.

Da rollte Bobbejaan in einem weißen Straßenkreuzer voller Nippes durch den Park, mit aufgeklebten Silberdollars, anmontierten Colts und einem Gehörn auf der Kühlerhaube, stieg gelegentlich aus und schüttelte den Besuchern die Hand. Es gab da auch eine Showbühne, wo als Höhepunkt Bobbejaan persönlich auftrat und „Ich weine in mein Bier" sang, wozu er gekonnt auf der Mundharmonika spielte. Sein Auftritt wurde von übergroßen lebendigen Stofftieren begleitet. Das wird wohl der Grund sein, warum ich eben bei der Recherche nach Bobbejaans Hits „Ich habe Ehrfurcht vor schneeweißen Hasen“ las. Es muss aber „Haaren“ heißen. Also, gestern musste ich an Bobbejaan denken, und was soll ich sagen, heute ist Bobbejaan Schoepen gestorben. Dieses Zusammentreffen sorgt mich ein bisschen, aber ich versichere, dass nicht alle Leute sterben, an die ich zufällig denke.

Ballack Ab-in-den-Urlaub

Es handelt sich vermutlich nur um einen Fehler in der kosmischen Software, der jeden ab und zu mal treffen kann, auch den Fußballspieler Michael Ballack. Im Juli 2009 unterschrieb er einen Werbevertrag bei „Ab in den Urlaub.de“, wurde sogar „das neue Gesicht“ dieses Unternehmens und jetzt, last minute vor der WM in Südafrika die „Schreckensnachricht“: „Der Schlüsselspieler“ (Joachim Löw) Michael Ballack ist verletzt und fehlt bei der WM, weshalb die Deutsche Nationalmannschaft in „Schockstarre“ (Tagesschau.de) gefallen ist. Und als Sportler dürfen sie nicht mal in ihr Bier weinen.

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Schlangenlinien auf der Gegenspur

Am Sonntag bin ich mit dem Fahrrad mitten auf der Straße gefahren und bei Rot über die Ampel, unter den Augen der hannöverschen Polizei. Anschließend, weil’s so schön war: Schlangenlinien auf der Gegenspur, und zwar ungefähr da, wo sie Frau Käßmann aus dem Phaeton gezerrt haben. Die Polizei ließ mich gewähren, nicht etwa, weil ich keine Bischöfin bin und man mich aus meinem Fahrrad nicht herauszerren könnte, sondern weil in Hannover autofreier Sonntag war – mit Spektakel in der gesamten Innenstadt und rundum. Plötzlich schien es, als wären fast alle Hannoveraner Bummler, Radfahrer oder Mitglieder von Vereinigungen, die nichts Besseres zu tun haben, als Stände mit alternativen Fortbewegungs- und Energiekonzepten zu errichten, Kunstrad zu fahren, um aufgestellte Hütchen zu skaten oder auf Stelzen zu laufen.

Anders die manischen Autofahrer, die in den Außenbezirken auf die Aufhebung der Sperrungen gewartet haben, um endlich wieder in die Innenstadt zu brausen und dem Wahnsinn zu frönen, den man Autoverkehr nennt.

Gewiss war am Abend der Teufel los auf den Straßen Hannovers, denn der Triebstau der Autofahrer wird gewaltig gewesen sein. Endlich mal wieder jemand totfahren können, wenigstens ein bisschen verletzten, erschrecken, anmaulen, anhupen oder immerhin das Autofahrermantra „Arschloch!“ murmeln. Natürlich haben Autofahrer auch Rechte. Aber sie werden nicht gern hören, was am Sonntag allenthalben gedacht wurde, als sie nicht da waren, wie wunderschön nämlich die Welt wäre, wenn der Mensch nicht zwanghaft Autofahren müsste. Dieser unbändige Zwang hat wahrscheinlich etwas mit frühkindlicher Konditionierung zu tun, beispielsweise durch Bobbycars, auf die man seit Jahrzehnten unschuldige Kinder setzt, damit sie lernen, dass nur der Mensch mit vier lärmenden Rädern unterm Arsch ein angesehenes und vollwertiges Mitglied der Gesellschaft ist.

Rund 4000 Verkehrstote jährlich sind keine Kleinigkeit. Wir müssten mindestens eine Kompanie Selbstmordattentäter ins Land holen, um das zu toppen. Aber warum ausländische Arbeitskräfte für eine Sache anwerben, die wir selber viel besser können, zumal ein paar verstreute Sprengsätze zwar saftige Kollateralschäden anrichten, aber nicht geeignet sind, eine Dunstglocke aus Abgasen über die Stadt zu stülpen. Bei ausgedehnten Wanderungen oder Radtouren durch den Wald bekomme ich häufig Kopfschmerzen. Da sind einfach nicht genug Abgase in der Luft, weshalb Selbstmordattentäter für mich keine Alternative sind. ADAC-Mitglieder sind zuverlässiger. Das ist noch gute deutsche Wertarbeit. Und so gesehen, bin ich doch ziemlich froh, dass der autofreie Quatsch nur einmal im Jahr stattfindet.
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Philosophie mit vier Brötchen

Philosophie-mit-Brötchen
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Jedermann sein eigner Zeigestock

Mein Mitschüler Paul, ein unruhiger Bauernsohn, immer von einem leisen Misthauch umweht, wird nicht viel aus der Schule mitgenommen haben, außer der Dresche, die er tagtäglich von Hauptlehrer Schmitz bekam. Pro Halbjahr zerschlug Schmitz einen Zeigestock, überwiegend auf Paul. Allerdings zielte der Lehrer nicht, schlug mehr ins Ungefähre, so dass auch Pauls Nachbarn sich unter dem Zeigestock ducken mussten. Wer als erster mit dem neuen Stock geschlagen wurde, gab ihm ungefragt seinen Namen. In den drei Jahren, die ich unter der Fuchtel von Hauptlehrer Schmitz verbrachte, nannte er jeden neuen Stock „Onkel Paul“. Der arme Paul wurde also von sich selbst geschlagen, und traf der Stock mal mich oder einen anderen, dann war’s wieder Paul, der uns wehtat. Er war dann auch gemieden und ist immer etwas kümmerlich geblieben.

Drei Schuljahre saßen bei Schmitz in der Oberklasse. Wer ein bisschen geschickt war, lernte schon im sechsten Schuljahr alles, was der Hauptlehrer in seinen wiederkehrenden Vorträgen zu bieten hatte. Man brauchte während der Stillarbeit nur mit einem Ohr zuzuhören, was Schmitz dem siebten oder achten Schuljahr beibrachte. Aber Paul konnte sich einfach nichts merken. Nur eines hatte sich bei ihm festgesetzt, dass nämlich die Fliege Facettenaugen hat. Tatsächlich hatte er aber nur das Wort Facettenaugen behalten, denn wenn er wiedergeben sollte, was der Lehrer im Naturkundeunterricht ins Heft diktiert hatte, glänzte Paul mit Facettenaugen. „Der Storch hat Facettenaugen“, sagte Paul, die Katze hatte auch welche, selbst der Hase verfügte darüber. Nichts davon wurde je richtig gestellt, denn wenn Schmitz einen Schüler abhörte, saß er mit geschlossenen Augen am Pult, und nur ein leichtes Fingertrommeln verriet, dass er nicht schlief. Das Fingertrommeln jedoch hatte Zeichencharakter, denn solange Schmitz trommelte, musste man reden. Allein auf den flüssigen Vortrag kam es an. Wenn Schmitz dann zum Notenbuch griff und sein kryptisches Urteil hineinschrieb, durfte man sich setzen.

Einmal schlug Schmitz mich aus nichtigem Anlass derart heftig, dass ihm die Uhr vom Arm flog. „Man merkt, dass dir der Vater fehlt!“, giftete er, nachdem er sich an mir abreagiert hatte. Ja, mein Vater fehlte mir, nachdem er plötzlich gestorben war, aber nicht als Prügelmeister. Anschließend durfte ich drei Tage nicht in den Klassenraum, musste im Flur vor der Tür stehen. Außer der Einsicht, dass Willkür und Niedertracht ein schulamtlich verliehenes Privileg war, habe ich nichts Wesentliches bei Schmitz gelernt. Im Gegenteil, er brachte mir bei, das Rechnen zu hassen, denn wenn er übler Laune war, hagelte es Kettenaufgaben als Kollektivstrafe für ein winziges Vergehen. An denen saß man den ganzen schönen Nachmittag. Eigentlich habe ich das meiste außerhalb der Schule gelernt, durch eigene Anschauung und unbotmäßiges Lesen. „Der liest ja soviel!“, sagte Schmitz meiner Mutter, und das war ein Vorwurf.

Tatsächlich las ich nicht nur aus Neugier, sondern auch, um einer Autorität widersprechen zu können, die sich als Hohlkopf entlarvt hatte. Daher rührt mein Zweifel an allen Autoritäten. Damit bin ich immer gut gefahren. Durch glückliche Umstände habe ich nicht mehr Schule erlebt, als ich ertragen konnte. Schon bald war die Setzerei meine Universität, und als ich später studierte, war ich rasch enttäuscht von dem, was mir die ausgewiesene Universität zu bieten hatte. Will sagen, ein wacher Mensch braucht nicht viel Schule, ja, es ist beinah besser, um alle Schulmeister und Universitätslehrer einen großen Bogen zu machen, die sich nicht als kritische Köpfe zu profilieren wissen. Wenn wir die derzeitige desolate Situation im Bildungswesen beklagen, dann sollten wir nicht vergessen, dass nur die Eigentätigkeit des Menschen im Stande ist, ihn zu bilden. Alles andere ist Dressur. Man kann an deutschen Gymnasien mit einer 1,0 aus einer Abiturprüfung gehen, ohne einen einzigen eigenen Gedanken geäußert zu haben.

Derzeit lese ich Ivan Illichs radikale Schulkritik: "Entschulung der Gesellschaft". Es ist ein Werk, das ich jedem empfehle. Illich zeigt, wie Schulen und Universitäten die Unbildung produzieren, wie Schule junge Menschen schon früh in Klassen einteilt und jene aus den unteren Schichten daran hindert, das Selbstwertgefühl zu entwickeln, das erst die Voraussetzung von Lernen und Bildung ist. Illich propagiert das Lernen nach Neigung, das sich am besten in Netzwerken organisieren lässt. Er hat, als er "Entschulung der Gesellschaft" schrieb, noch nichts vom Internet wissen können. Hier lassen sich seine Ideen auf nahezu wunderbare Weise verwirklichen, wenn wir nämlich die Netzwerke des Internets als Chance begreifen, voneinander zu lernen und so unseren geistigen Horizont zu erweitern. Diesem Gedanken ist auch die Idee der offenen Bloguniversität verpflichtet.
Aufruf zu einem Experiment - Freitag, 28. Mai 2010

Ich würde mich freuen, wenn sich hier in nächster Zeit Diskussionen entwickeln zu den unterschiedlichsten Themen, die wir besprechen als Gleiche unter Gleichen. Den Anfang werde ich am Freitag, dem 28. Mai 2010 machen. Das erste Thema soll Ivan Illichs Streitschrift "Entschulung der Gesellschaft" sein. Wer mitmachen will, sollte das Buch vorab lesen. Wenn das Experiment der "Freitagsdiskussion" erfolgreich ist, werde ich sie fest im Teppichaus einrichten. Sie wird dann jedesmal bis zum darauffolgenden Sonntag gehen.

Wir vertrauen nicht der politischen Kaste, wir lassen uns nichts vordenken durch Institutionen und Medien, wir bilden uns.
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Zum Gedenken an Shaveskin

Noch heute habe ich seine leise, heisere Stimme im Ohr. Wir hatten uns zu sechst auf der Terrasse vor Jennes Mühle versammelt, und mit der Dämmerung zog es aus dem Bächlein unten kalt und feucht herauf. Ein Grill stob mit seinen Funken dagegen an. Eine Weile saßen wir nebeneinander und sprachen kaum. Zu fremd schienen unsere Lebenswelten.

Ich war ein wenig enttäuscht gewesen, als wir bei Jennes Mühle in Mücheln eintrafen. Er hatte schon im Jahr zuvor elf untereinander befreundete Bloggerinnen und Blogger eingeladen, aber kurz vor dem Treffen hatten die meisten dann abgesagt. Und jetzt saß da zum Ausgleich ein ernster, düsterer Mann, der sich im Internet Shaveskin nannte, durch eine dunkle Brille schaute, tätowiert war bis zum Hemdkragen hinaus, die Ohrläppchen mit schwarzen Schmucksteinen geweitet, - und wir hatten uns nichts zu sagen. Wir waren uns auf der Blogplattform nie begegnet und wussten nichts voneinander. Für ihn war ich vermutlich ein arroganter Wessi, verwöhnt vom Überfluss des kapitalistischen Westens, kaum angefächelt von den Härten des Lebens.

Meine Vorbehalte gegen Shaveskin hatten aber gar nichts mit Ost-West-Befremdung zu tun. Für mich, das muss ich gestehen, hat das Tätowieren, Durchbohren und Beringen etwas von Sklavenart. Im Leben habe ich noch keinen Ring getragen, denn er ist ja nur das Glied einer Kette. Warum sollte ich mich ohne Not ketten, kennzeichnen oder brandmarken lassen? Und nun saß da ein Mann, der sich nach meinem Verständnis selbst versklavt und geschunden hatte. Das hinderte mich zunächst daran, mit ihm warm zu werden, wie man im Rheinland sagt. Irgendwann jedoch, als wir gegessen hatten und die Kohlen im Grill nur noch glimmten, beim Licht der Kerzen auf dem Tisch, da kamen wir uns näher. Er sprach leise über seine Jugend in der DDR. An eines erinnere ich mich: Manchmal habe er Angela Merkel an der Straßenbahnhaltestelle gesehen, und wenn er sie angeschaut, errötete sie augenblicklich. Merkel sei überhaupt als Jugendliche ein verhuschtes Ding gewesen.

Am nächsten Tag schon reiste er ab. Seinen stacheligen Bart habe ich noch gespürt, als wir uns zum Abschied umarmten, denn es wird sich ja heutzutage meistens umarmt. Kaum kennt man sich, schon ist Umarmen angesagt. Diese Umarmung aber, so fremd mir dieser Mann war und blieb, an die erinnere ich mich gern. Der Blogger Shaveskin hat im realen Leben Dieter Bernhardt geheißen. Die Berliner Zeitungen bezeichnen ihn als Mieter-Aktivist. In seinem Kreuzberger Fanny-Hensel-Kiez organsierte er den Widerstand gegen drastische Mieterhöhungen. Es betrifft 28.000 Wohnungen, für die es von der Stadt Berlin keine Anschlussförderung mehr gibt.

In der Nacht zum 2. Mai 2010 hat sich Dieter Bernhardt das Leben genommen. In seinem Abschiedsbrief nennt er als Grund die für ihn unerträgliche soziale Kälte. Er habe es nicht mehr ausgehalten, mit welcher Gefühlskälte und Gleichgültigkeit der Berliner Senat auf die existentiellen Sorgen der von horrenden Mieterhöhungen betroffenen Mieter reagiert, „die vom Verlust ihrer Wohnungen und ihres Lebensumfelds bedroht sind.“

Wir haben uns daran gewöhnt, dass täglich über Milliarden geredet wird, Schulden, die der Staat macht, um seine neoliberale und ungerechte Politik zu kaschieren. Gegen die realen Auswirkungen der Ausplünderung unserer Gesellschaft hat Dieter Bernhardt gekämpft und verloren. Die Lumpen mögen Champagner saufen, einem wie Shaveskin können sie nicht das Wasser reichen.

Pressespiegel:

Berliner Kurier. Berliner Mieter trauern um ihren Vorkämpfer
Berliner Zeitung. "Ich habe keine Kraft mehr"
Tagesspiegel. Mieteraktivist nahm sich das Leben
Radio Utopia. Arm und tot. Zum Selbstmord von Dieter Bernhardt
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Abendbummel - Kalte Hände und frische Banknoten

Draußen warten die Eisheiligen, heute Eyjafjallajökull, morgen tritt Mamertus hinzu, übermorgen herrscht Pankratius, am 13. Mai Servatius, gefolgt von Bonifatius und der kalten Sophie. Ich musste Geld aus dem Automaten ziehen. Es war frisch gedruckt. Gegen besseres Wissen trug ich es in den Supermarkt auf der anderen Straßenseite. Hier war mir schon mehrmals eine schlechte Stimmung unter den Angestellten aufgefallen.

Auch heute wurde wieder gestritten, als ich in der Kassenschlange stand. Zwei Kassiererinnen, Rücken an Rücken, sprachen über die Schulter hinweg von Mobbing unter den Kollegen. Ich erinnere mich noch gut an Zeiten, als dieser Supermarkt zu einer anderen Kette gehörte. Da trugen die Kassiererinnen Kittel mit der Aufschrift: „Wir werden Sie begeistern.“ Mir haben sie damals Leid getan, denn der Slogan war eine höhnische Etikettierung; sie wurde von den realen Arbeitsverhältnissen und Verhaltensweisen Lügen gestraft, wenn zu Stoßzeiten die Kassenschlangen herandrängten.

Herzfehler
Die Bediensteten der Supermärkte müssen nicht begeistern. Man muss mir die jüngsten Sonderangebote nicht besingen oder eurythmisch vortanzen. Ich will auch nicht von den Angeboten in den Wahnsinn getrieben werden. Geniale Kunstwerke in der Metzgerei-Bedientheke - bitte nicht. Mir reicht es, wenn ich bedient werde von Menschen, die ausgeglichen wirken und gelegentlich Freude an ihrer Arbeit zeigen. Das lässt sich nicht durch Kittelaufschriften verordnen, sondern liegt allein am Betriebsklima. Und das wiederum hängt von menschlichen Arbeitsbedingungen ab.

Für das Management vieler Großunternehmen sind menschliche Arbeitsbedingungen keine rechnerische Größe, weil sie ihre Arbeitnehmer primär als Kostenfaktor sehen. Das ist die logische Konsequenz einer politisch gewollten gesellschaftlichen Entwicklung. Wenn man sie nicht mehr durch alberne Kittelaufschriften zu kaschieren versucht, wenn man zulässt, dass die Kunden sich vernachlässigt fühlen, weil ihnen sogar die letzte Zuwendung, der Gruß, verweigert wird, dann wird greifbar, dass die wahren Eisheiligen im Berliner Regierungsviertel und in den Vorstandsetagen sitzen, und das über den 15. Mai hinaus. Dafür bekommen wir aber nach der ruinösen Eurostabiliserung immer öfter frisch gedrucktes Geld.

Guten Abend.
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