Mal hören, wie die reden - Deutschland südost (1)

Tief im Osten hat sich ein mir völlig unbekannter Journalist ins Krankenhaus gelegt und mir damit eine unerwartete Dienstreise in den südöstlichen Zipfel Deutschlands beschert. Ich Notnagel bin zu früh am Hauptbahnhof von Hannover, und nachdem ich mir zwei Paar neue Handschuhe gekauft habe, sinke ich in einen roten Ledersessel der DB-Lounge. Man sitzt hoch über dem Bahnhofsvorplatz und hätte einen schönen Blick auf das geschäftige Treiben dort unten, wenn nicht die Sessel entlang der Fensterfront dem Plebs den Rücken zuweisen würden. Ich muss an einen Ostfriesenwitz denken: Warum fliegen die Zugvögel über Ostfriesland auf dem Rücken? Damit sie das Elend dort unten nicht mit ansehen müssen.

Man ist in der DB-Lounge ein 1.-Klasse-Mensch, wird am Eingang von freundlichen Damen begrüßt und verabschiedet wie ein gern gesehenes Familienmitglied, kann sich kostenlose Getränke nehmen, Zeitungen sowieso und natürlich persönlich beraten lassen, wenn man ein fahrplantechnisches Fürzchen quer sitzen hat. Den Parkettboden haben die 1.-Klasse-Menschen der Republik ziemlich abgelatscht. Es muss mehr von Ihnen geben als man denkt. Die meisten jedoch sind Geschäftsleute, auf Firmenkosten unterwegs wie ich, schauen wichtig in ihr Notebook oder führen bedeutende Telefongespräche.

Neben mir
lassen sich ein junger Mann und eine junge Frau nieder. Sie sind offenbar Bauingenieure und arbeiten für die Bahn. Der Mann klappt einen meterlangen Plan mit Gleisanlagen der Bahnsteige C und D aus, der als Leporellofalz in einem dicken Aktenordner klemmt. Worüber sie sprechen, das ist noch viel länger, nämlich „satte 200 Meter Leitung“, sagt der Mann. Ein kleiner Dicker im blauen Anorak kommt herein. Der trägt sein gut umhülltes Cello wie einen Rucksack. Das ist der Unterschied zwischen dem Bahnhofsvorplatz und der DB-Lounge. Auf dem Bahnhofsvorplatz werden die Instrumente ausgepackt und so lange gequält, bis einer was in den Hut wirft. Der Mann in der DB-Lounge muss das nicht, weil ein ausgesuchtes Publikum ihn irgendwo erwartet, weshalb er hier als wandelnde Hochkultur glänzen kann. Da verzeiht man ihm auch einen blauen Anorak. Mir ist sowieso aufgefallen, dass namentlich Konzertmusiker sich ausgesucht schlecht kleiden. Grausam gekleidet zu sein, ist quasi das Prädikat der E-Musiker. Es gibt an, dass diese Leute nur der Musik verpflichtet sind und mit irdischen Dingen wie Kleidung nichts am Hut haben – zumindest außerhalb der Konzerthäuser.

Ich steige in den IC nach Dresden. Derzeit hat die deutsche Bahn viel altes Material auf den Schienen, weil die neueren Züge und Waggons in den Werkstätten herumstehen, und so hat auch der IC nach Dresden noch einen alten Abteilwagen. Ich habe dummerweise eine Reservierung für einen Platz im Abteil. Denn kaum habe ich mich am Fenster in Fahrtrichtung niedergelassen, kommen drei junge Männer herein, kurzgeschorene Haare und Riesengepäck im Seesack. Nur einer hat eine große Sporttasche und trägt passend dazu den Pitbull-Smoking von Addidas. Dieser junge Mann spricht zwar perfekt Deutsch, hat aber einen russischen Akzent. Die drei sind offenbar Bundeswehrsoldaten aus dem Ruhrgebiet und fahren nach Dresden-Neustadt zu einem Lehrgang.

Sogleich packen sie ihre Notebooks aus und beginnen ein Ballerspiel, worin sie Panzer und Waffen generieren müssen und zum Schluss sogar über Atombomben verfügen. Dabei sind sie durchaus manierlich und haben sich allesamt Ohrhörer reingesteckt, weil sie mich nicht mit lästigen Tönen nerven wollen. Es ist doch gut, wenn so manierliche junge Männer sich in ihrer Freizeit in der Kulturtechnik des Mordens üben. Bedachtsam sind sie auch, denn sie lassen es während der gesamten Fahrt nicht zum Atomschlag kommen. Zwei von ihnen sitzen dicht nebeneinander, der andere sitzt links von mir an der Tür. Er wird von den beiden ein bisschen geschnitten, ist aber auch keine ansehnliche Erscheinung. Einmal klappt er sein Portemonnaie auf und zeigt den beiden ein Foto seiner Freundin. Der eine schaut hin, als könnte er gar nicht glauben, dass sein Gegenüber überhaupt eine Freundin hat, und was wird das für eine Schabracke sein? Der im Pitbullsmoking schaut erst gar nicht vom Bildschirm auf, weil er gerade irgendwelche Okkupanten wegballern muss. Die Mutter seines Nebenmanns ruft an, und er sagt artig: „Ja, Mama, das mache ich in Ruhe, wenn ich zu Hause bin.“ Mamasöhnchen mit Feldhaubitze. Draußen zieht bald eine öde Landschaft vorbei, Felder und Wiesen, auf denen große Wasserlachen stehen. Die Sonne lässt sie aufblitzen, und da sie direkt gegen das dreckige Abteilfenster scheint, ist alles in gelben Dunst getaucht, obwohl der Himmel wohl blau sein will. Meine Stimmung sinkt, und auch die Titanic ist schlecht, jedenfalls muss ich nicht schmunzeln.

Nach Dresden wird man geschaukelt, mal sitze ich in Fahrtrichtung, mal entgegen, dann wieder anders rum, und auch Dresden hat einen Kopfbahnhof. Als wir glücklich aussteigen, sagt das Mamasöhnchen: "Jetzt müssen wir gleich ein paar Mädchen ansprechen, mal hören, wie die reden."

Fortsetzung Häuser zum Fürchten
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Trithemius Tagebuch - Höhere Wesen befahlen ...





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Einladung zum Schrift-Seminar in der offenen bloguni

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Liebe Kunden,

Sie sind herzlich eingeladen zu einem Blog-Seminar am
Dienstag, 8. Februar - Donnerstag, 10. Februar 2011 um 20:20 Uhr, Zeitaufwand jeweils etwa 90 Minuten. Theorie, praktische Übungen und Diskussion.

Voraussetzung: Anmeldung, Online-Verbindung zur offenen bloguniversität, möglichst ein Scanner, und die Bereitschaft, handschriftliche Ergebnisse zu veröffentlichen.

Dienstag: Tres digiti scribunt - Abschreiben wie im Mittelalter
Mittwoch: Schrift und Schreiben - Aspekte der Handschrift
Donnerstag: Realer Schreibanlass - Online-Reportage


Materialien zur Vorbereitung finden Sie unter den Rubriken Schriftwelt im Abendrot, Teppichhaus Textberatung sowie
Schrift, Sprache, Medien (im alten Teppichhaus).
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Spasss mit Frau Nettesheim - Meine Filialleiterin





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Mehr: Frau Nettesheim
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An Handschrift gedacht und nur Tasten gedrückt

"Glauben Sie, dass irgendwann das Schreiben mit der Hand ganz verschwinden wird?", fragte mich heute am Telefon die Journalistin Constance Frey. Ich muss zugeben, dass ich so weit nicht gedacht hatte. Constance Frey recherchiert für einen Artikel über die Initiative des Grundschulverbands, die Ausgangsschriften abzuschaffen und nur noch Druckschrift zu lehren. Sie sagte, sie habe mit einem Didaktiker gesprochen, und er könne sich vorstellen, dass die Handschrift verschwindet.

Zunächst fiel mir eine ähnliche Entwicklung beim Zeichnen ein. Vor einigen Jahren besuchte ich eine Papierfabrik in Düren. Ihr Hauptgeschäft waren Jahrzehnte lang Transparentpapiere gewesen, also Entwurfpapier für Grafiker und Architekten. Ein Manager des Unternehmens sagte mir, der Markt sei völlig eingebrochen, denn Grafik-Designer oder Architekten würden nicht mehr mit der Hand zeichnen. Diese Entwicklung war schon in den 90ern abzusehen. In einer großen Werbeagentur, die ich besuchte, saßen alle Grafik-Designer an Rechnern, und der Firmenchef sagte stolz: „Sie finden hier im ganzen Haus keinen Bleistift mehr.“ An der Fachhochschule für Design in Aachen emeritierte im Jahr 2004 Klaus Endrikat, Professor für „Zeichnerische Darstellung und Gestaltung, insbesondere Figürliches Zeichnen.“ Mit Endrikat endete auch das Zeichnen an der Fachhochschule, das Fach wird nicht mehr angeboten. Seine letzten beiden Diplomanden hatten das Ende des Zeichnens ironisch überhöht. Sie waren als reisende Zeichner durch die Republik gezogen und hatten darüber ein zeichnerisches Fahrtenbuch geführt.

Im professionellen Bereich ist die Handzeichnung also schon exotisch und wird langfristig nur in der Bildenden Kunst überdauern. Letzlich droht ihr ein Schicksal wie der Kalligrafie – sie wird Kunsthandwerk, etwas für Weihnachts- oder Jahrmärkte bzw. den Volkshochschulkurs.

Könnte das Schreiben mit der Hand ebenso verkommen und allenfalls noch im Hinkritzeln einer Notiz und in der Unterschrift überleben? Wäre es ein Verlust? Schon jetzt ist der persönliche Brief seltener geworden. Dadurch gewinnt er natürlich an Wert, wie alles Seltene als wertvoll empfunden wird, abgesehen von einer seltenen Krankheit oder rarem Erfolg. Sehr verdächtig scheint mir der Prestigewert der teuren Füller. Wer auf sich hält, wer etwas darstellt in dieser Welt, will auch ein edles Schreibgerät besitzen, schreibt aber in der Regel kaum damit. Indem der Füllhalter zum Prestigeobjekt degeneriert, verweist er auf seine schwindende funktionale Bedeutung. Hinsichtlich der Kulturtechnik Schreiben sind solche Füllfederhalter ein Zeichen von Dekadenz. Natürlich lässt sich einwenden, dass viele Erwachsene noch ihre Handschrift pflegen und in Gebrauch nehmen. Ob die Enkelgeneration aber noch genauso empfindet, scheint fraglich.

Noch wird jeder bestätigen, das Schreiben mit der Hand habe einen Wert. Doch worin besteht er? Kaum ein Mensch schreibt heute noch getreulich einen Text ab, wie es die Kopisten des Mittelalters getan haben. Wer mit der Hand schreibt, verfasst selber Texte. Er ordnet seine Gedankenkreise und formt sie zu Zeilen aus, das Denken bekommt eine Richtung, bei der Alphabetschrift von links nach rechts, von der Emotion (dem Antrieb zu schreiben) zur Logik (der wirkungsvollen Ausformulierung) hin. Das geschieht auch beim Schreiben mittels Tastatur. Aber in der Handschrift ist Langsamkeit, Auseinandersetzung mit Material, sie erfordert und trainiert die Feinmotorik. Handschreiben ist ein im besten Sinne ganzheitlicher Vorgang, denn es fordert und fördert gleichermaßen Herz, Hand und Verstand.

Wenn das zeichnende und schreibende Handwerk an Bedeutung verlieren, so deutet sich an, dass der Mensch des Computerzeitalters das praktische Handgeschick aufzugeben bereit ist. Das handwerkliche Geschick wird museal, weil der postmoderne Mensch sich immer seltener als ganzheitlich erlebt, wie auch die ganzheitliche Bildung aus Schulen und Universitäten verschwindet. Zudem ist er kein Handelnder mehr, sondern ein Getriebener unter Zeitdruck.

SchreibmalwiederHätte ich mich hingesetzt und diese Überlegungen mit der Hand geschrieben, wäre der Text anders geraten. Ob er besser oder schlechter wäre, lässt sich nicht sagen. Aber es ist ein Risiko, eine Fertigkeit zu vernachlässigen, deren Wert man erst erkennt, wenn sie verloren ist. Trotzdem: Der ungenannte Didaktiker wird Recht behalten. Letztlich wird die kulturelle Bildung immer von ökonomischen Überlegungen geprägt.

Abgelegt unter: Schriftwelt im Abendrot
Mehr: Die Handschrift hat Schwindsucht
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Skandal: GfdS kapert das kleine H - von Wutbürger und Volontär Hanno P. ScHmock

Immer mer Wegelagerer und Zolleintreiber tummeln sicH im Internet. Da will aucH die GesellscHaft für deutscHe SpracHe (GfdS) ir ScHäfcHen ins Trockene bringen. Sie Hat von der Kultusministerkonferenz (KMK) den KleinbucHstaben „H“ gekauft. Er ist ab Heute nicHt mer gemeinfrei. „Niemand Hat bisHer daran gedacHt, sicH die RecHte an einem BucHstaben zu sicHern“, sagte Professor Rudolf Humburg vom Hauptvorstand der GfdS. „Aber wir.“

GfdS

Warum gerade das klein H? Wo das H tonlos bleibe, weil es lediglicH als DenungszeicHen auftrete, also einen langen Vokal kennzeicHne, sei es verzicHtbar, findet die GfdS. „Nemen Sie unser Wort des Jares 2010, ‚Wutbürger’. Der lange Vokal u kommt one jeglicHes DenungszeicHen aus, oder wollten Sie etwa ‚Wuhtbürger’ scHreiben?“, scHmunzelt Humburg. (h: mit freundlicHer Genemigung der GfdS). Bei Wörtern, die nocH die griecHiscHen ScHreibweisen ph und th (h,h: mit freundlicHer Genemigung der GfdS) in sicH trügen, könne das kleine H seit der Ortografie-Reform sowieso getilgt werden. Hier wolle die GfdS die verwirrenden Doppelformen aus unserer Ortografie vertreiben.

LetztlicH sei die EntscHeidung, sicH einen BucHstaben aus dem Alfabet zu sicHern, von der Sorge getragen, dass sicH die ScHrift durcH allzu Häufigen Gebrauch abnutzen könnte. „Hinz und Kunz setzen ja inzwiscHen ir unausgegorenes Geschwafel ins Internet. Das muss ein Ende Haben, wenn uns die deutscHe SpracHe lieb ist!“, wettert Humburg.

Wer zukünftig das kleine H noch benutzen will, kann es bei der GfdS kaufen: 1000 Stück kosten 49,99 Euro. Nicht registrierte h-Benutzer werden abgemahnt. (h,h: mit freundlicHer Genemigung der GfdS)

Mer von:
Volontär Hanno P. ScHmock
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Absolut langweiliger Teppich - Klein durchdringt Groß

Langweilteppich04
Pataphysisches Seminar
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Durch die Tür gedacht – Meine surrealer Alltag (26)

Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich an die Geräusche meiner Wohnung gewöhnt habe. Manchmal spät abends, wenn es still geworden war, hätte ich schwören können, dass da jemand in meinem Flur herumschleicht. Aber so oft ich auch nachsah, der Flur war leer. Erst nach einer Weile fand ich heraus, dass der lange Flur, wo er abknickt zu Bad und Küche, eine Schallbrücke zur Wohnung meines Türnachbarn hat. Zu dieser Zeit lebte auch seine Freundin in der Wohnung, doch bald zog sie aus.

„Es ging nicht mehr, Herr van der Ley“, sagte mir der Hausbesitzer mitfühlend, „sie haben nur noch gestritten.“ Den Streit hatte ich freilich auch schon oft mitbekommen. Mein Nachbar hatte bald eine neue Freundin, die ihn gelegentlich besuchte. Ich hörte ihn vorher in seiner Wohnung wirbeln, vor allem hörte ich, wenn er seinen Staubsauger hervorholte, um den Teppich zu saugen.

Vor einigen Tagen kam ich gegen 12 Uhr nachts nach Hause. Bevor ich meine Wohnung aufschloss, fiel mein Blick auf die Tür meines Nachbarn. Da dachte ich, dass ich ihn schon lange nicht mehr hatte wirbeln hören. Ob seine neue Freundin ihm den Laufpass gegeben hat? Und er in seinem Kummer lässt die Wohnung verlottern. Das finde ich nicht gut, dachte ich, indem ich meine Tür aufschloss. Er könnte wenigstens staubsaugen. Das sollte er sich wert sein.

Ich schaute noch kurz nach meinen E-Mails. Da hörte ich in meiner Diele ein unheimliches Kramen. Dann ein Rauschen und Heulen, dass es mir kalt den Rücken herunter lief. Ich schaute nach, aber die Diele war leer. Mein Nachbar hatte den Staubsauger hervorgeholt, mitten in der Nacht.

Mehr aus dem surrealen Alltag
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Gewinn durch Verlust - empfiehlt Gastautor Duroy

"Nimm dir ein bisschen Zeit und gib Sie dir", ist das Motto der Teppichhaus-Bibliothek, für die ich mir schon lange keine Zeit mehr genommen habe, fast vergessen sogar. Was bedeutet es, sich Zeit zu nehmen. Woher nimmt man sie, aus der Zeitspardose? Zeit nimmt man, indem man sie verliert, um sie für sich zu verschwenden. Von diesem Gewinn durch Verlust schreibt Gastautor Paul Duroy so mitreißend, so eindringlich empfiehlt er uns den Verlust und stellt uns dafür einen schier unendlichen Gewinn in Aussicht. Verschwenden wir also Zeit auf dieses Manifest.

Der Verlustmensch und sein unendlicher Zugewinn oder:
Ein naives Manifest (die schwere Erlangung II)

von PAUL DUROY

"Eine lange Zeit fuhr ich so fort, an meinem Tisch sitzend. Auch wenn ich nichts tat als warten, war es das Gleichmaß, mit der an der Balkonkante zerstäubenden Schneeflocke. Mir schien, ich würde so für immer meine Ungeduld los und hätte die mir gemäße Geschwindigkeit gefunden.
Und weil es so einmalig war, kann ich es sagen: ich war da Wort für Wort in der Zeit, so als sei diese mein Ort. Öfter kam mir auch der Gedanke dazwischen, so etwas habe noch niemand erlebt; mit mir fange etwas Neues an. An der Stelle des vergessenen Körpers spürte ich jetzt eine Sinnlichkeit, mir lieb, in dem sie da war, ohne irgendwo hinzuwollen."

(Peter Handke, Mein Jahr in der Niemandsbucht)

Wir müssen lernen, unsere Zeit zu verschwenden für den richtigen Zweck. Unsere Zeit gerade dadurch verwenden, dass wir sie verschwenden. ''Zeitverschwendung'', das war immer schon eine gängelnde Ideologie und Propaganda-Parole der totalitären Arbeitsgesellschaft, die Muße nicht duldet und Faulheit sanktioniert. Auch wenn man irgendwann gar nicht mehr weiß und überhaupt nicht mehr begründet, warum man die Menschen immer mehr arbeiten lässt statt weniger, bläut man den jungen karrierewilligen Menschen immer mehr ein: ''nutzt eure Zeit für die Karriere, verschwendet keine Zeit.'' Das ist natürlich großer Unsinn.

Am feinsten bildet sich der Mensch, der den Mut findet, sich selbst für eine ganz geraume Weile aus dem Weg zu gehen, den eigenen Willen abzuwerfen und auch der fremden Einvernahme zu entgehen. Man muss es aushalten, mindestens ein Jahr, wenn nicht länger, souveränes Treibholz zu sein in den Wirren des Überlassenseins und nicht zu planen, allein: sich selbst als vage entwerfen, sich dahinwerfen den Umständen, sich dabei aber rausnehmen aus dem System der produktiven Vereinnahmung. Man sollte etwas schöpfen, von dem man immer glaubte, das man es schöpfen wollte, einer Idee lauschen, die in die Welt will, um sie schöner zu machen, die in die Welt will, weil sie dort blühen will und nicht, weil sie dort zum Wachstum beitragen will und zum Produktivitätsprozess. Sie will beglücken, aber nicht berauschen oder Lust schaffen.

Diese leise Idee in uns, die aus uns geboren werden möchte, hat nicht den lauten zielgerechten Schrei des Willens und Wollen, sie ist zag und verwundbar, sie zerstäubt wie ein Blütenpollenköpfchen, wenn der rauhe Wind weht, aber sie ist vor allen Dingen schön. Sie hat keine gezielte Richtung, wie der Pusteblumenfallschirm und auch wenn sie nichts verändert, ist sie wichtiger als jeder formierende Schritt. Ihr Wollen ist der Drang des Schönen, ans Licht zu geraten, aber sie will sich nicht breit machen dort.

Dazu brauchen wir Zeit im Überfluss, müssen uns womöglich Tage, Wochen und Monate zurückziehen aus dem Gewirr unserer Beanspruchung durch die Arbeitswelt, müssen uns bereinigen, müssen der Berauschung und zugleich der Stumpfheit entgehen, Nächte durchwachen, um die Sinne wieder in der Kunst der ertragenen Angst zu schärfen. Schauen lernen. Beobachten lernen. Den ganzen Tag (wir wählen den Montag, denn Sonntag kann jeder) auf einer Waldblumenwiese verbringen ohne Buch und Sonnenöl und allein dem Wachsen und Krabbeln zuschauen um einen.

Und loslassen. Einen Gegenstand mitnehmen, den wir unheimlich lieb gewonnen haben und ihn im Wald liegenlassen auf einem Baumstumpf oder einem Feldweg. Und nie mehr wiederkehren und ihn nie mehr heimholen. Auch dieser Verlust schärft unsere Sinne, unseren Sinn fürs Verlieren, denn es ist ein bewusster Verlust, wo wir doch sonst all die Jahre immer nur hinzugewonnen haben. Unsere größten Verluste sind dabei ganz still vor sich und von uns gegangen und wir haben es nicht einmal bemerkt, so hat uns der Konsum überspült. Loslassen, das ist bewusstes Verlieren.

Dann werden wir wacher mit den Tagen und bemerken, dass wir nie wirklich nur Zeit, sondern immer auch unseren Verstand und unsere wache Aufmerksamkeit auf die Dinge verschwendet haben. Das Entertainment hat uns abgestumpft und die Dosierung an Schrillheit und Nacktheit und Lautstärke und Effekt musste erhöht werden, damit wir unsere Belustigung auch noch ein bisschen spüren. Wir sind immer tauber geworden über die Zeit und während die Tiere in den Schlachthöfen schreien, bezeichnen wir uns als Ende der Nahrungskette und lassen uns weiterhin vergiften vom System.

Nicht wahr, wir haben noch den Zynismus. Den haben wir übernommen vom System und gelernt, zu allem, was so richtig danebenläuft und unseren Interessen zuwider, schon den moderat-beschwichtigenden Subkommentar zu führen, der es uns leichter macht, auch weiterhin nichts zu verändern. Hauptsache, wir können über uns selber lachen und weiterhin alles nicht so ernstnehmen.

Aber alles verliert jetzt seine Selbstverständlichkeit, das Wetter und das Tiere-Essen, die Weltmacht Westen und das ewige Wachstum, die kontrollierte Sprache und die Arbeitsgesellschaft. Neue Zeiten drängen sich auf und wir müssen lernen, mehr Zeit zu verlieren, umso viel mehr Leben zu gewinnen.

Widerstand geht auch leise, so wie z.B. eine Pflanze den Asphalt aufsprengt und marode macht, ein kleiner Keim in seinem stillen Drang und seinem zarten Gewebe eine massive Steindecke durchschlägt, um zu blühen und sei es nur für einen Tag, das nötigt mir unendlich mehr Respekt ab, als die jahrzehntelange und nachweislich effiziente Karriere eines Bill Gates oder Steve Jobs. Diese Wirtschaftsriesen sind so unheimlich effizient und dennoch liegt mir soviel mehr am Verwehen des Pusteblumenköpfchens, soviel mehr Sinn und Kraft in diesem geballten Lebenskreislauf von wenigen Tagen.

Schönheit sammeln und Augenblicke. Zeit verwenden für sich selbst, nicht für seinen Chef oder den Betrieb. Man verschwendet keine Zeit, denn die Zeit vergeht ohnehin. Wenn, dann verschwendet man Zeit beim Arbeiten. Zeit also bewusster verlieren, um Schönheit zu entdecken. Das Entdecken von Schönheit bildet in der Glücksfähigkeit, das Konsumieren von Unterhaltung lässt Glücksfähigkeit verkümmern und betäubt allein wie jeder Rausch, der uns nach seinem Vergehen ins Leere stellt.

Wenn wir aber verzichten auf die billige und hinfällige Unterhaltung, auf die Konsum-Artillerie, müssen wir auch nicht mehr viel Geld verdienen. Glück nennen wir dann, was wir spüren und uns gut fühlen lässt und für das wir nie auch nur einen Cent bezahlten. Glück ist das schöne und fast undefinierbare Gefühl, das uns mit uns selbst im Reinen fühlen lässt, und nicht gekauft werden konnte mit Geld, sondern schwer erlangt wurde durch Verzicht auf Effizienz und Rausch und Konsumbefähigung. Kaufen kann jeder (so er Geld hat), erlangen ist ein unendlich schwererer Weg.

Die Belohnung, die nur vermutet werden kann, ist neben dem Glückszu''gewinn'' der neue Blick auf ''mich selbst'' als bewusstes Individuum. Wenn ich mich aus dem Ertüchtigungs-Zusammenhang reiße, gerate ich in eine schwere Krise. Aber diese Krise wird mobilisieren, was ich nicht in mir glaubte. Eine Stärke in uns, der wir dann nicht mehr hinterherjagen und sie doch nie erlangen, sondern die auf uns zugeht. Eine Stärke, die nicht finanzielles Glück verheißt, sondern unserer Festigkeit und unserem geschärftem Bewusstsein entspringt.

Stellen wir uns also bereit, ganz viel zu verlieren an Besitzständen und Selbstverständlichkeiten, Zwängen und Habseligkeiten, um ganz viel Raum zu schaffen für das, was in uns heranwachsen kann, wenn wir es nur ließen. Einen neuen Raum zu schaffen, den wir sonst immer nur überfüllen und verstellen durch Anhäufung und Vermüllung. Schaffen wir diesen Raum aus uns selbst, haben wir den Mut zum Schönen und machen wir uns auf den Weg zu uns selbst, in unsere unbekannten Räume, entdecken wir den so stillen An-Spruch in uns, was da aus uns in die Welt gesetzt werden will, damit wir es endlich EINMAL sehen. Vielleicht werden wir Künstler statt Produzenten und Konsumenten und in jedem von uns wohnt ein Bild, ein Gebirge aus Gedichten, ein Lied mit einer unendlichen Melodie, eine unberechenbar mutige Idee ohne jedes Kalkül, ohne Nutzen, aber mit einer Wurzel, die ins Glück ragt.

Das würde Kunst heißen ... soviel ärmer können wir nicht werden als wir es jetzt bereits sind, da uns fast alles Greif- und Kaufbare zur Verfügung steht. Uns selbst aber sind wir am Fernsten ...

Der Weg, uns selbst neu zu gewinnen, kann nur sein, eine schöne Idee zu haben und diese schöne Idee zu leben. Keine Vorstellung und keinen Plan, sondern allein der schönen Idee zu folgen. Ohne das notorische ''Aber'', diesen Reflex-Hammer des Pragmatischen, der allen Mut zum Alternativ-Entwurf in uns immer so effizient niederschlägt. Kein ''aber ich muss doch eigentlich...''. Das System hält uns von uns selber fern, gibt uns vor, was wir wollen sollen und wenn wir nicht wollen, kauft es uns ein, indem es uns kaufen lässt.

Begeben wir uns endlich auf den steinig-schönen Weg zu uns selbst ... erlangen wir uns schwer.


Paul Duroys Blog: Raumgewinner

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